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Schulzeit

„Dass ich irgendwie als Mädchen ”gesehen” wurde, war möglicherweise – nach der modernen Psychologie wenigstens - ein Grund dafür, dass ich ab meinem 10. Lebensjahr einer der grössten Rüpel wurde, von dessen Katapult (Geschenk meines Vaters) keine Fensterscheibe der Umgebung sicher war. Ich war ein sagenhaft guter Schütze bis auf etwa 80 Meter – ab 10. Lebensjahr dann mit dem 6 mm Kleinkalibergewehr.

In der Sexta hatte ich einen Revolver meines Vaters erwischt, ihn mit in die Schule genommenn (kurz nachdem ich meine Aufnahmeprüfung für das Humanistische Gymnasium bestanden hatte) und auf dem Schulhof mit dem 7,65 mm Kaliber herumgeknallt – schliesslich einen Mitschüler dazu bewogen, seine hellblaue Gymnasiastenmütze auf einen Pfahl zu hängen und sie abzuschiessen. Dann wollte ich noch Wilhelm Tell spielen, aber erfreulicherweise kam die Freizeitaufsicht dazwischen. Das Resultat: consilium abeundi (Rausschmiss).

Um meinen Tatendrang abzulenken, liess mein Vater bei Schulschluss mittags mich eine Zeit lang von seinem Burschen hoch zu Ross abholen. Die Schulbücher kamen in die Satteltaschen meines Pferdes und dann ging es in die Kaserne zum Reit- und Schiessunterricht.

Des regelmässigen Abholens wegen bekam ich a) einen hochmütigen Blick und b) schlechte Zensuren. Dafür kannte ich sämtliche Gewehrmodelle auf Anhieb. Ich durfte mit den Rekruten zum Scharfschiessen mit. Meine erste Schuss-Serie – der Unteroffizier: ”prachtvoll durchgezogen” – war 8, 6, 1, 10, 9. – “150 Meter liegend, aufgelegt.”

Einmal als ich auf der Pritsche lag, hörte ich einen Rekruten zum Hauptmann sagen: “ich danke gehorsamts” – worauf ich mich lässig auf der Pritsche, das Gewehr in der Hand, umwandte und sagte: “gehorsamst zu danken haben nur die Offiziere”. Feierliche Stille.

Mein Vater ist dann viel mit mir in den Wald geritten. Dort durfte ich absitzen und Eidechsen, Blindschleichen und einmal auch eine Ringelnatter fangen, um sie meinem Terrarium einzuverleiben. Das Transportproblem wurde derart gelöst, dass mein Vater meine Ausbeute unter seine Mütze steckte. Er brauchte ja nur mit Handauflegen grüssen - ich musste meinen Deckel abnehmen. „


Vater und Sohn in Uniform 1908

Vater und Sohn in Uniform, 1908



„Ich bin auch oft allein mit meinem eigenen Pferd in den Wald geritten, mit meinem Rottweiler “Pietsch von Neckar” vorweg. Pietsch hatte ich nach Bestehen der Aufnahmeprüfung geschenkt erhalten. Bei den Ritten durch den Wald hatte ich in den Satteltaschen mein Skizzenbuch bei mir – ich habe sehr viel ohne abzusitzen vom Pferd herab gezeichnet – Bäume, Landschaft u.s.w., einmal einen Hirsch, der bombenruhig wie ein Denkmal vor mir stand.

Ludwig Haller mit Vater zu Pferd

Ludwig Haller mit Vater zu Pferd



Mit meinen zehn Jahren war ich schon bei einigen der Truppe sehr geschätzt: ich konnte eigenartigerweise die Schrift meines Vaters gut lesen, während mein Vater sein eigenes Artzgekritzel nicht entziffern konnte – er sogar, wenn man es ihm vorlegte, ruppig reagierte. Soldaten sind geschickt, sie kultivieren das Gesetz des geringsten Widerstandes (parsimonia lex minoris resistentiae), auch ohne Latein.

Ludwig Haller in Schuluniform hoch zu Ross

Ludwig Haller in Schuluniform hoch zu Ross



Man gab dem Einlassdienst Bescheid, dass der kleine Junge mit der hellblauen Schülermütze unbeanstandet durchzulassen wäre. Ich wurde mit meinem Pferd oftmals ins Manöver mitgenommen. Ich sehe meine Mutter noch deutlich vor mir: es war Sitte, dass die Offiziersfrauen in Wagen zum Rastplatz hinter der Truppe her fuhren. Meine Mutter, selbst Tochter eines preussischen Majors (1870 gefallen) kredenzte den Wein aus Silberbechern den herumstehenden Offizieren.

Ich erzähle dies alles so weitläufig, wovon man doch glauben könnte, ich sei zum Militaristen erzogen worden. Und genau das ist falsch. Ich bin ganz und gar unmilitärisch. Deswegen halte ich auch die Theorie für verkehrt, die Jungen düften nicht mit Bleisoldaten und Waffen spielen. So ist z.B. von Hindenburg bekannt, dass er nie mit Bleisoldaten spielte. Die Fähigkeit, mit “Leib und Seele” Soldat zu sein, fehlt mir völlig. Wahrscheinlich war ich, eben weil ich von Kind das Militärische in– und auswendig kannte, nicht mehr in der Lage, dem Militär auch nur den geringsten Reiz abzugewinnen.

Natürlich war die Optik, auch rückblickend, “grossartig”. Mein Vater nahm mich einmal - ich glaube zu Kaisers Geburtstag – für grosse Parade auf dem Tempelhofer Feld mit. Die Infanterie und Kompaniefront im Parademarsch defilieren zu sehen, die Blechmützenkavaliere und das 1. Garde-Regiment zu Fuss und das Kaiser Alexander Garde Grenadier-Regiment No 1 nicht mit angezogenem Gewehr, sondern das Gewehr “friederizianisch” seitlich senkrecht haltend – ich war begeistert.

Ich habe als Achtjähriger eine Zimmerwand, etwa 10 Meter lang benutzt, mein Erlebnis auf die Tapete zu malen – eine nächste Tapete wurde geopfert für die Kavalerie: Regimentgarde des Corps mit Kürass und auf dem Helm (=”Kaske”) einen Adler, die Leibhusaren mit Totenkopf: schwarzer Attila (Waffenrock). Doch dies war das Schönste: das ganze Regiment nur mit Schimmeln beritten.

Lange Zeit haben wir die “Kunstwerke” ausgehalten. Ich weiss noch, dass alle über Naturalismus, der “richtigen” Zeichnung und über die enorme Wiedergabe von Monturen und Waffen erstaunt waren. Ebenso war man verblüfft, dass ich eine Operette, zu der mich meine Eltern mitnahmen, fast fehlerlos mit 2 Fingern herunterklimpern konnte. Sollte ich Soldat, Maler oder Musiker werden? Oder vielleicht Arzt? “Der Blinddarm ist rechts, links ist die Gebärmutter”, habe ich einmal mit 4 ½ Jahren eine Dame bei Tisch belehrt. Man war erstaunt. Weshalb, ahnte ich nicht, es war doch richtig, was ich sagte.

Übrigens soll ich mit 6 Jahren eine schöne Stimme gehabt haben. Ich musste in der Bürgerschule (die es neben der Volksschule damals noch gab und als Vorbereitungsschule für das Gymnasium bestand) vortreten und ein Lied singen. Es war fürchterlich für mich, vorzutreten, um mich coram publicco zu produzieren.

Ich kann mich gut entsinnen, dass ich etwa seit meinem 5. Lebensjahr intensiv mit Zeichnen von der Natur begann. Es ist charakteristisch, dass ich die Phase der “Kinderkunst” gar nicht gekannt habe, sondern sofort Menschen und Tiere beobachtete und “wie ein Erwachsener” zeichnete. Als ich dann lesen und schreiben lernte, habe ich das gezeichnet, was ich las. Es waren Motive aus Lederstrumpf, Jagdszenen mit Löwen und Tigern, Pferde und Reiter, Soldaten aus nächster Anschauung waren auch dabei. Die Dramatik, der Kampf, waren Gegenstände meiner “Kompositionen”.

Im Sommer 1914 kam ich Ostern auf’s Realgymnasium Blasewitz (hellblaue Mütze). Die Fürstenschule begann erst mit Untertria (Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia). Ich habe noch eine Ansichts- und Postkarte mit meinem Foto und Mütze, die mein Vater meiner Mutter schrieb „Liebe Lulu, (französische Ausdrucksweise) wir wollen Ludwig aus der Schule heraus nehmen.“

Mutter war sehr herzkrank und Vater brachte uns beide in das Sanatorium Dr Gmelin von Wyvk auf Föhr. Dort trat ich in das Pädagogium ein – stinkfein zinoberrote Baskenmütze – echte kanadische Paddelboote. Ein Sohn von der Howalt-Werft war auch da u.s.w. Ich habe versehentlich einen Bumerang einem Jungen an den Kopf geworfen.

Meine Mutter wurde sehr krank, wäre beinahe gestorben. Sie hatte durch Unachtsamkeit des Personals zu lange unter der Höhensonne gelegen. Dann, später als geplant, kamen wir kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zurück nach Dresden.

Zunächst ging ich wieder mit der blauen Mütze in die Schule. Dass mich mein Vater vom Bormann (Bursche) mit dem Pferde von der Schule abholen liess, erzählte ich schon. Bormann wurde stereotyp „Bormann das Rindvieh“ genannt. Als ich einmal jemanden im 3. Reich gegenüber diese Bezeichnung fallen liess, wurde ich von einem Gestapo-Mann gestellt. Ich habe aber unseren Bormann gezeichnet. Das Skizzenbuch konnte ich nebst kindlicher Schrift versehen vorweisen. Das Skizzenbuch habe ich nicht wieder bekommen. Es waren Landschaften und Bäume drin, vom Pferde aus gezeichnet.

Aus weit späterer Zeit habe ich gewaltige Erinnerungslücken. Ich weiss nur, dass ich 1916 in Marburg a.L. bei Freunden meiner Eltern war und dort von einem Hauslehrer unterrichtet wurde. Meine Mutter wohnte gleich nebenan auf der Schwanallee im “Wirtshaus an der Lahn” [das schöne Kastanien hatte und erst vor wenigen Jahren abgerissen worden ist. Ich habe es im Fernsehen sofort wieder erkannt.]

Anschliessend war ich noch in Uhyst bei einem wendisch predigenden Pfarrer zur Vorbereitung für die Fürstenschule St Afra. Ich hatte mitten in der Quartalzeit meine Aufnahmeprüfung zu machen – ganz alleine.

Der Pfarrer predigte deutsch und wie gesagt wendisch. Ich hatte einmal einen nicht beendeten Brief an meinen Vater liegen lassen. In ihm hatte ich mich über die Predigt - ich musste jeden Sonntag in die Kirche gehen – lustig gemacht und meinem Vater geschrieben, es sei ein Kunststück, so viel zu reden und nichts zu sagen. Der Herr Pfarrer hatte den Brief gelesen und sich bei meinem Vater beschwert. Darauf hat ihm mein Vater geschrieben: “Ich ersuche darum, dass die Briefe meines Sohnes an mich nicht gelesen werden”.

Die Aufnahmeprüfung war das letzte Mal, dass ich mich geistig angestrengt hatte (1918). Ich war mit meinem Freund zusammen der Klassenstärkste und wurde von den oberen Klassen mit Respekt behandelt (die oberen Klassen hatten Strafen zu erteilen – 20 Verse Ovid z.B.), weil ich ihnen die Tanzstundenkarten zeichnen und malen musste. Ich hatte sie in der Hand. Ich war der Künstler.

Auch sonst hat man mir in Mathematik und auch in Griechisch geholfen – eigentlich in allen Fächern. Denn ich war der Meinung, dass ich alles nachlesen könne und nichts zu lernen brauche. Man müsse nur wissen, wo und bei wem man die betreffende Stelle zu suchen und zu finden habe. Mit dieser meiner persönlichen Auffassung stand ich allerdings ganz allein da. Übrigens ist das im Grunde heute noch meine Auffassung von “Bildung”. Mathematik und Griechisch habe ich gehasst – eigentlich eben die ganze Schule. Dennoch hatte ich alle, auch die Lehrer, gern, was auf Gegenseitigkeit beruhte.

Ich hatte viele gute Kameraden – von meinem Vater nicht ohne Grund “Kumpane” genannt. Sport fiel mir leicht. Ich war ein ausgezeichneter Werfer. Dann Reiten, Laufen, Bogenschiessen, sogar Schlagball u.s.w. Trotz meiner “Kumpane“ war ich von Kleinauf auch wiederum zurückgezogen.

Ich habe viel Plastiken gemacht mit dem Knetstoff “Plastilin” – die Plastiken fielen noch viel naturalistischer aus. Ich entsinne mich noch sehr genau eines Beduinenkopfes, ein Gipsmodell, das meine Mutter, die viel Französisch mit mir sprach, einst aus Paris mitgebracht hatte. Der Kopf, den ich nachgebildet und lange Zeit aufgehoben habe, der dann aber doch irgendwie verloren ging, war von der Arbeit eines Erwachsenen nicht zu unterscheiden.

Ich bekam Klavier- und Geigenunterricht, mochte aber beides nicht, obgleich ich als sehr musikalisch galt. Ich wollte zeichnen. Ich habe erst als Erwachsener gemalt. Ich habe alles gezeichnet, was mir vor Augen kam. Den modernen Schulunterricht im Aquarellmalen gab es damals noch nicht. Ich halte das gesamte Kunstunterrichten auf der Schule für grundfalsch. Auf dem Gymnasium hatten wir zwar einen Turn- und Zeichenlehrer in einer Person, aber man gab mir keinen Kunstunterricht: ich konnte immer machen, was ich wollte und bekam stets die „1“ – die einzige während meiner gesamten Schulzeit.

Um bei dem Wort “Schule” zu bleiben: von meinem sechsten bis neunzehnten Lebensjahr war ich nur die Hälfte dieser Lernzeit wirklich auf der Schule. Die wohl sogar überwiegende Zeit wurde ich von Hauslehrern unterrichtet. Dennoch war ich kein “einsames” Kind, ich hatte stets viele Kameraden und von einer Horde war ich stets der Anführer. Dem, was man “sorgfältige Erziehung” nennt, bin ich mit viel Temperament und Schläue ausgewichen.

Die Schulzeit war für mich – trotz guter Kameradschaft und Kontaktfreudigkeit, einfach nur fürchterlich. Ich habe mich auch nie auf die ersten Plätze vorgedrängelt, meinen Kameraden liess ich stets den Vortritt, aber nicht aus Höflichkeit, ich war an allem uninteressiert und sagenhaft faul – und nur lebhaft, wenn es um Zeichnen und Sport, als auch Kriegsspielen ging. Bei unseren angeordneten Kriegsspielen wurde ich stets als Führer der einen Partei gewählt. Mein „Unterführer“ hat es später zum Inspekteur des Heeres gebracht.

Als ich in wenigen Wochen leutnantsfähig wurde, habe ich mich vom Dienst gedrückt und mich mit dem Rennsattel begnügt. Die “Morgenarbeit” mit Sonnenaufgang an den zwei Galopptagen pro Woche war das Schönste. Schulreiten war mir zu langweilig, - Vokabeln lernen auf der Schule auch.

Ich hatte die Fähigkeit, eine Seite Vokabeln 5 Minuten “eidetisch” anzusehen und beim Abhören im Unterricht hatte ich das Bild der ganzen Seite vor mir. Noch heute, nach einem vollen Menschenalter, habe ich noch manche Wörter vor mir oder sehe wenigstens, ob sie “oben rechts” oder “unten links” gestanden haben.

Lernen, ich habe etwas gegen das Lernen. Ich muss etwas sofort können oder ich bringe es nie. Den “richtigen” Sitz beim Reiten, die richtigen Bewegungen beim Boxen, Ducken, Fussarbeit u.s.w. habe ich sofort gekonnt. Ebenso ist es beim Tanzen. Als ich in Paris Josefine Baker tanzen sah, habe ich sofort auf dem Boulevard vor dem Café du Dôme absolut perfekt Charleston getanzt. Auch Stepptanz, aber Quickstep konnte ich genauso sofort.

Ich sage das alles deswegen, weil ich der Meinung bin, dass z.B. für das schwierige Aktzeichnen ein absolutes Körpergefühl mitzubringen ist, so etwa wie beim Musiker das absolute Gehör. Ich war stets sehr beweglich, aber nicht, weil ich viel Sport getrieben habe; ich trieb Sport, weil ich die Bewegungen von Haus mitbekommen habe. Das heisst aber nicht, dass jemand meiner Vorfahren künstlerische Ambitionen hatte; meine Mutter hat zwar in ihrer Jugend viel gezeichnet, wie das bei jungen Mädchen schicklich war; mein Vater, ein brillianter Diagnostiker, war im Zeichnen und Malen absolute hilflos. Vermacht hat er mir nur das Sehen auf den ersten Blick und sein Werfertalent.

Ich konnte als Tertianer besser werfen als die Primaner (und hielt im Chor bereits als Untertertianer 2. Bass) Was das Werfen anbelangt, habe ich mir einmal ein Glanzstück geleistet. Natürlich war es purer Zufall. Aber der Zufall war eben gerade mir, als dem besten Werfer der Schule passiert. Ich ging einmal als Obertertianer mit meiner nunmehr grünen Mütze des Humanistischen Gymnasiums im Stadtpark spazieren. Der Park war sehr gepflegt. Es gab dort viel gut ausgeholzte Bäume aus Übersee. Vor einem dieser Bäume war ein kleiner Menschenauflauf. Alle schauten zu einer hohen kanadischen Kiefer auf. Dort, aus einem angebrachten Nistkasten schaute ein Eichhörnchen heraus und herab. Die Leute riefen und wollten es verscheuchen, aber es blieb ganz friedlich sitzen und beobachtete die aufgeregten Menschen. Ich kam daher geschritten, bückte mich, hob einen Stein auf und warf ihn nach dem Kopf des Eichhörnchens und landete einen Volltreffer; der Wurf war so perfekt, dass der Stein in der Öffnung des Nistkastens eingeklemmt stecken blieb. Dem Einhörnchen war überdies nichts geschehen: es drückte von innen mit seinem Köpfchen den Stein aus der Öffnung heraus und suchte das Weite. Händeklatschen, Bravo-Rufen – ich war unendlich stolz. Ein Schuss!

Am nächsten Tag wurde ich zum Rektor gerufen. Die Heldentat per Zufall war ihm berichtet worden. “Das sind doch sicherlich Sie gewesen!” “Jawohl Herr Rektor”. “Dann haben Sie zum Ansehen unserer Schule beigetragen”. Ein andermal wurde ich noch einmal zum Rektor gerufen: ”Haller, Sie passen nicht auf unsere Schule” “Jawohl Herr Rektor: aber ich kann dafür etwas, was Sie alle nicht können”.

Der Anlass war: ich hatte unseren alten weissbärtigen Deutschlehrer während des langweiligen Unterrichts gezeichnet. Eine Todsünde. Ich zeichnete also meinen Lehrer, der auf dem Podium sass. Plötzlich stand er auf und kam auf mich zu und nahm mir meinen Block weg, sah sich die beiden Zeichnungen an und sagte: “Wenn Sie mich zeichnen wollen, dann kommen Sie zu mir und sagen “Herr Konrektor ich bitte darum, Sie abzukonterfeien zu dürfen“, sah sich die Blätter lange an und ging auf das Podium zurück und sagte immer wieder: “nicht übel, nicht übel”.

Am nächsten Tag wurde ich dann wieder zum Rektor gerufen, wie ich schon erzählte: ich nicht auf die Schule passte. Der Rektor sagte auch noch: “es hat Ihnen ja ferngelegen, den alter Herrn zu karikieren, Sie hat der schöne charakteristische Kopf interessiert”.

Nach etwa 12 Jahren traf ich meinen alten Lehrer wieder, als ich aus der Akademie gerade kam. Er erkannte mich sofort wieder, wusste meine Familiengeschichte – er hatte alle seine Schüler im Kopf, er sagte: “Die Portraits habe ich wohl verwahrt, ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie ein grosser Maler werden”.

Ich habe die ganze Geschichte von Anfang an genau im Gedächtnis behalten. Ich habe übrigens nie Karikaturen gezeichnet.

Mein Rektor war als Assessor der Lehrer meines Vaters als er Oberprimaner war, auf der Parallelschule. Im Grunde gab es nur zwei Gymnasien dieser Art. Meine Schule hatte Gellert und Lessing als Schüler gehabt. Um es nochmals zu sagen: während meiner Schulzeit war ich der unglücklichste Mensch. Sport und Kameraden: ja, Schule: nein.

Ein noch neuer Deutschlehrer, der mich noch nicht kannte, stellte das Aufsatzthema: Das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Nun muss man wissen: das Einzige, was ein Maler aus tiefster Seele hasst, ist die Literatur. Dafür ist er ja Maler, dass er alles, was er fühlt, im Gemalten selbst ausdrückt. Schlechte Maler haben die Anlage zur Literatur!

Übellaunisch habe ich das Bild in Achsen aufgeteilt und das Bild so beschrieben. Ich bekam meinen Aufsatz unzensiert zurück mit der Bemerkung ”Ich gebe Ihnen einen guten Rat – wenn Sie einen Beruf wählen, werden Sie ja kein Maler”.

Das ist ein spezifisch deutsches Erbübel: Der deutsche Intellektuelle setzt “Bildung” mit Belesenheit, also mit dem Wort gleich.

Bei der ersten Begegnung mit dem anderen Geschlecht habe ich zwiespältige Erfahrungen gemacht. Mit 14 Jahren hat mich eine bildhübsche Frau, die Frau eines höheren Beamten, angesprochen und mich zu ihrem Liebhaber gemacht. Nach etwa einem Jahr erschien die Kriminalpolizei bei meiner Mutter, die aus allen Wolken fiel. Später habe ich einmal in einer ähnlichen Situation gesagt: ich bin kein Homme de Femme – ich sehe nur so blöde aus.“

„Der Vater meines Vaters war Beamter, Finanzrat oder etwas ähnliches. Ich weiss von ihm so gut wie nichts. Mein Vater hat nie mehr von ihm erzählt, als dass er von ihm auf eine berühmte Schule geschickt wurde – das Gleiche, was mein Vater mit mir auch tat. Ich sollte “die beste Bildung erhalten, die es bei uns gibt”. Mir war die Bildung etwas zu gut und zu reichlich, offengestanden.

Um vieles war ich dann meinem Vater später dankbar. Niemals wäre ich hinter die Geheimnisse der Kunst gekommen, hätte ich nicht Griechisch und Latein pauken müssen. Hatte mich mein Vater zunächst reiten und schiessen lassen und überhaupt machen lassen was ich wollte, hatte er sich die Sache plötzlich anders überlegt. [So hatte ich z.B. eine Menge Aquarien und Terrarien, mein Vater wollte mir ein Haus kaufen.]

Als er 1916 aus dem Felde in das Offizierserholungsheim Bad Elster gebracht wurde, nahm er seinen Sohn mit und so flogen die Schulbücher an meinem Kopfe kratzend an die Wände. Beim Abendessen hatte ich meinen Platz neben Major von Papen, Kommandeur der Oschatzer Ulanen. Der fragte mich dann immer “Nun mein Junge, was machen die Fortschritte im Latein?” Mein Vater war ungeduldig und fürchterlich jähzornig, doch niemals habe ich einen Schlag bekommen. Er tobte oft: “Ist der Krieg vorbei, bekommst Du ein Billet nach Amerika”. Als 1945 die amerikanischen Offiziere und Girls gummikauend kamen, habe ich gedacht, hätte er es doch gemacht!

Mein Vater ist 1938 gestorben. 1940 traf ich einen alten Herrn, einen seiner Kollegen zufällig: “Ich lese die Gutachten von Ihrem Alten immer wieder gern, sie sind einfach klassisch – 1916 begegneten wir uns im Schützengraben an der Somme; da erzählte er mir bei schwerem Artilleriebeschuss “mein Junge hat einTropfenherz”. Bislang wusste ich das gar nicht.„

Ich habe mir oftmals überlegt, was geworden wäre, wenn ich ein braver Schüler, nur brave Gedanken entwickelt hätte. Dazu folgendes. Es war im Kriegsjahr 1944 in einem grossen bekannten Buchgeschäft. Unversehens stehe ich neben meinem alten Konrektor. Ich mache einen Kratzfuss. Er hatte mich schon längst gesehen und merkwürdigerweise sofort erkannt. Ohne mich weiter anzublicken, hält er seitlich ein Buch, welches er gerade in der Hand hat, zu mir hin. Es war eine witzig geschriebene Erzählung von Benn “Die Verteidigung der Xanthippe”. Hier, haben Sie das gelesen? Das Buch ist ein Skandal. Da drinnen kommt “Tachygraph” vor (tachys = schnell, graphin = schreiben). Das Wort ist nicht belegt – das Buch sollte man einstampfen.

Und auf einmal wusste ich, mit elfjährigem Abstand, weshalb ich ein geradezu leidenschaftlich schlechter Schüler war. Nicht viel anders ging es mir mit der Akademie. Die Lehrer waren z.T. würdige Geheimräte – Lokalmatadoren. Jeder hatte ein Theoriechen, keiner einen Verstand über seinen Kopf hinweg. Von der internationalen Kunstevolution keine Rede. Während der Zeit, ungefähr von 1923 – 33, kein Wort über Kubismus, über die “Brücke”, über den “Blauen Reiter” – dafür aber immerhin “Gehen Sie nach Paris, sehen Sie sich die “Olympia” an” (auf welche das Pariser Publikum vor einem ganzen Menschenalter mit Stöcken los ging). Die Olympia erschien als ein hilfloses Machwerk, aber “gut gemalt”. Erstmals lernte ich Ingres, Delacroix, Courbet, Renoir, Cecanne kennen. Die Deutschen Liebermann, Corinth, Slevogt, Kokoshka wirkten dagegen geradezu hilflos. Aber warum?“



Aus dem Archiv des Sächsischen Landesgymnasiums Sant Afra


Ludwig Haller hatte die damalige Fürsten- und Landeschule St. Afra besucht. [Die Schule wurde 1945 geschlossen; das Gebäude jedoch weiterhin für verschiedene Einrichtungen im Bereich der Bildung genutzt - u.a. von 1953-91 als Hochschule für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG-Hochschule). 2001 erfolgte dann die Wiedereröffnung als Sächsisches Landesgymnasium Sankt Afra. (Früher also St., heute Sankt.]

In der Broschüre "Verein ehemaliger Fürstenschüler 1941/42" findet sich ein Eintrag über Haller: Er wurde 1918 an der Schule aufgenommen. Dort steht auch seine Berufsbezeichnung: Akademischer Maler - außerdem seine damalige Wohnadresse (1941/42): im Künstlerhaus in der Pillnitzer Landstraße in Dresden-Loschwitz.

Allerdings hat er seinen Schulabschluss nicht an St. Afra gemacht. Im Jahresbericht der Schule von 1918-1922 steht, dass er die Schule bereits Ostern 1920 schon wieder verlassen hatte (s. S. 104 unter "II. vor der Reifeprüfung"). Seinen Abschluss hat er dann wohl auf dem Realgymnasium in Meißen gemacht.

Es galt damals als etwas Besonderes, Schüler an der Fürsten- und Landesschule St. Afra gewesen zu sein, einer Schule, auf die schon G. E. Lessing, Gellert, Hahnemann und Rabener gegangen waren. Die Schule hatte sich ihren guten Ruf seit 1543 aufgebaut, bis 1942 die Umwandlung in eine Deutsche Heimschule erfolgte und man damit alle Traditionen und humanistischen Ideale aufgeben musste.

Vielleicht war es Haller unangenehm, dass er St. Afra verlassen musste und erwähnte deshalb nichts davon in seinen Memoiren. Ungewöhnlich war es jedoch nicht, dass Schüler die Schule vor dem Abschluss verließen, wie aus der Liste ersichtlich ist. Gründe für seinen Abgang sind nicht bekannt.

Der namenlose Rektor in Haller’s Memoiren war Johannes Poeschel. Dieser war Rektor an Sankt Afra von 1905 bis 1921, zuvor war er, wie Haller in Bezug auf seinen Vater selbst erwähnt, Lehrer am St. Augustin, der Schwesterschule von Sankt Afra in Grimma, von 1878-1905.

Bei dem alten, weißbärtigen Deutschlehrer, der Konrektor zu Hallers Zeit war, könnte es sich um Hans Gilbert handeln, der seit 1880 Lehrer an Sankt Afra war. Da er jedoch Michaelis 1919 in Ruhestand ging und Haller erst Ostern 1920 die Schule verließ, ist unsicher, ob der Vorfall mit dem Zeichnen des Lehrers während des Unterrichts ihn betrifft oder nicht. Es kann schon sein, dass Haller erst nach einer Übergangszeit schließlich die Schule verließ.

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