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Die Flucht nach Ludwag in Bayern

„Wenige Tage nach dem Zusammentreffen (mit Prinz Friedrich Christian) hatten wir das Glück zu erfahren, dass einmal nur als Ausnahme ein Elbdampfer nach der Tschechei fahren sollte. Denn Dresden war hermetisch abgeriegelt.

Wir sind am 28. Februar 45 per Schiff die Elbe aufwärts in die Tschechei und von da in einem Flüchtlingszug nach Bayern. Wir wurden unterwegs von amerikanischen Fliegern mit schweren Maschinengewehren unter Beschuss genommen. Die Garbe ging jedoch daneben. Vor Bamberg am Morgen erneuter Beschuss. Dort ausgestiegen, in Kellern untergebracht und vom NS Hilfswerk auf Dörfer verteilt.

Wir kamen auf das Dorf Ludwag
(heute zur Stadt Schesslitz gehörend). Es war der erste März als wir dort eintrafen. Ein Dorf, steil in der Höhe auf dem Jura – Kreide – Felsen. Entsätzlich ärmlich. Der zu bearbeitende Boden mit Brocken durchsetzt, so dass nicht gepflügt werden konnte. Dort haben wir gut gelebt. Waren die Bauern in der Kirche machte Liane Schlagsahne. Man sollte es nicht für möglich halten: die Bauern tünchten alljährlich ihre Häuser mit Schlagsahne. (Diese Aussage muß auf einem Mißverständnis beruhen. Nachforschungen haben ergeben, daß es einen solchen Brauch nicht gab. Stattdessen war es so, daß die Häuser mit gebranntem Kalk vom nahen Steinbruch getüncht wurden.)

In diesem kleinen Dorf von vielleicht 100 Seelen haben wir viel erlebt. Liane, die in ihrer Jugend auf mehreren großen feudalen Rittergütern in der Tschechei und in Schlesien als freiwillige Elevin gearbeitet hatte, versorgte den Hof der alten Bauern (Familie Loch), die ihren Sohn im Felde hatten. Nur eine 17-jährige Tochter war noch da.

Eines Tages im April wurden wir von einem merkwürdigen Geräusch geweckt – eine Art Rauschen. Was wir sahen war gräußlich. Zweimal je 30 000 Kriegsgefangene aus einem schlesischen Lager wurden zu Fuß nach Westen geführt. Es waren wohl sämtliche Menschenrassen vertreten, die es auf dem Globus gibt – viele Asiaten, Malayen, Mikronesier, Neger, Inder u.s.w. Ein russischer Kommissar, mit dem ich zusammenstand, meinte lächerlich: “Das bekommt man sonst nur im Zirkus zu sehen“. Ein Wunder, dass man ihn nicht erschossen hatte.

6 Gourkhas kamen einen Tag zeitiger. Sie hatten Ruhr. Wir hatten Medikamente noch von den Schwestern in Dresden. Ich sagte: „Soldiers with knife in the mouth“. Darauf alle 6: „Wir sind Sanitäter“. Die Gurkhas hatten den gefürchteten Kris als Nahkampfwaffe, mit dem sie, das Messer quer im Mund, unsere Wachposten bei Nacht anfielen.

Die dann kommenden 60.000 Menschen mit den ebenso erschöpften deutschen Wachposten taumelten vor Hunger. Daß die fast alle Ruhr hatten, kam davon, daß sie sich unreife Rüben von den Feldern holten. Nicht nur Männer, auch Frauen waren darunter – Französinnen. Tag und Nacht ein einziges Rauschen der Menschen. Es war streng verboten, den Menschen Nahrung zu geben und den Deutschen nicht. Ich hatte eine alte Jacke mit großen aufgesetzten Taschen. Die habe ich mit Brot vollgestopft und bin immer wieder mitten durch die Kolonne hindurch gegangen. Beim dritten Mal waren die Taschen abgefetzt. Ein Gestapomann in Zivil hob die Pistole und wollte mich erschießen. Die Kolonne schloß dicht auf und hinderte ihn daran.

In Abständen hörte ich immer Schüsse. Später stellte sich heraus, dass die SA erschöpfte Gefangene, die nicht mehr weiter konnten, sofort am Wegrand erschoß. Ich höhre das Rauschen der Stiefel, die Kommandos und Knallen der Schüsse heute noch.

Von Weitem, von Bamberg her, hörten wir schließlich rollenden Donner. Die Front kam näher. Ich bin mit Liane mit dem Rad mehrmals nach Bamberg zum Einkaufen gefahren. Einmal kamen Jabos
(amerikanische Jagdbomber) und machten es sich zum Spaß, auf uns zu schießen. Wir runter vom Rad und in den wenig Schutz bietenden Straßengraben. Liane hatte überdies eine weiße Bluse an.

Wir arbeiteten auf dem Feld und hatten einmal 5 griechische Soldaten bei uns, die ausgewiesen waren. Wenn Jabos kamen, um auf uns zu schießen, winkten die Soldaten ab. Die Engländer haben wir ziemlich lange gehabt. Es waren sehr nette Kerle.

Wir haben in dem kleinen Dorf so manches erlebt. Zwei Gestapo Leute drückten sich bei uns herum. Sie waren sehr schweigsam und gar nicht aufdringlich. Das hatte seinen Grund. Eines Tages drückten sie herum und faßten sich ein Herz: Der Herr (sie meinten mich) ist doch sicher sehr gebildet und macht sich so seine Gedanken. Werden wir den Krieg verliehren? Nun war ich nicht so blöd „Ja“ zu sagen. Ich warf mich in die Brust und schwärmte vom Führer, der alles meistere. Sie nickten freudig mit dem Kopf, hatten aber die Hosen voll. Schließlich sagte ich: Wenn Ihr Brüder nicht sofort verschwindet, werdet Ihr aufgehängt. Das Dorf war streng katholisch. Dann haben sie sich gedrollt. Das war ein Spaß!

Einmal kamen Artilleriewaffenmeister ins Dorf geritten. Sie sahen mich stehen. Ich hatte Reithosen und Stiefel an. Sie baten mich, ich möchte mitkommen und ihnen das Gelände zwecks Aufstellen der Geschütze zeigen. Also bin ich aufgesessen und durch das hügelige Gelände getrabt. Die Leute fragten mich, ob ich Artillerieoffizier sei. Ich hatte die Geschütze vorbildlich aufgestellt. Geschossen haben sie die Kanonen zu unser aller Glück nie. Sie wurden sogar wieder abgeholt und weiter rückwärts in Stellung gebracht. Nur ein Geschütz blieb stehen und ragte als Silhouette gen Himmel. Ich hatte die Plätze zur Aufstellung so ausgesucht, dass das Schußfeld sich überschneidet.

Eines Nachts gab es mächtigen Lärm. Die Türen unserer Scheune wurden aufgeschoben. Die deutsche Wehrmacht war da. Und davor der Stab einer ganzen Division. Sie kamen dann morgens an. Die Offiziere wurden alle in unser Bauernhaus gelegt. Die Herren traten hintereinander ein. Liane stand wie eine Königin mitten im Zimmer und alle knallten ihre Hacken zusammen und nannten ihre Namen. Gnä’ Frau, wir bitten Sie um die Liebenswürdigkeit, uns unseren mitgebrachten Kaffee zu rösten. Das tat Liane, die Kaffeetrinkende nur allzu gerne. Alles hatten sie bei sich. Die feinsten Getränke, Rauchwaren, Schokolade u.s.w. Wir haben in Saus und Braus gelebt.

Dann sangen wir Lieder: „Mit Eisenhauer quer durch Germany“. Sie wollten gerade einen Hitlerwitz erzählen. Da sagt ein neben mir sitzender Major: „Ach bitte, zeigen Sie mir doch den Locus“. Draußen nimmt er mich beim Arm. „Mensch halten Sie die Schnautze, Ihnen gegenüber sitzt der Politruk der Division. Der läßt Sie glatt an die Wand stellen.“ Man muß eben stets einen Schutzengel haben. Diesen Politruk, seit dem Attentat auf Hiltler eingeführt, hatte ich nicht bedacht. Es war ein aalglatter, äußerst eleganter Kerl mit guten Manieren und ausgesprochenen Haifischaugen, wie ich sie noch einmal bei einem anderen Gestapomann gesehen habe.

Der Stab blieb einige Tage da. Man versorgte Liane noch mit Kaffee, Likör, Zigaretten u.s.w. Zuletzt zog ein Munitionswagen mit Granaten ab. Zuvor stellte man ihn stundenlang vor unserem Zimmerfenster ab. Schließlich schaukelte der Planwagen davon. Er war etwa 20 m entfernt. Da ging es „Wum“ und es gab einen Granateneinschlag genau dort, wo das Auto 3 Sekunden vorher gestanden hatte.

Die Division war kaum abgezogen, kam eine Kompanie Bodenpersonal Luftwaffe in das Dorf. Sie bezogen Stellung und gruben sich mit MGs vor dem Dorf ein. Das war sehr schlecht. Aufklärer hatten dies natürlich beobachtet. Es war ein schöner Abend, warm, die Bienen summten, und Liane ging über einen kleinen Hügel hin und herum nach den Tieren zu sehen und sie zu füttern. Ich saß auf einem Stein und zeichnete. Liane ruft mir zu: “Hör mal wie die Bienen summen“. Ich machte einen großen Satz und riß Liane zu Boden. Die Bienen, die ich jetzt hörte, kamen von einem MG (Maschinengewehr), das den Hügel bestrich. Dass Liane davon kam, war ein Wunder.

Kurz vor Sonnenuntergang ging es dann los. Links und rechts vom Dorf wurde ein grüner Christbaum gesetzt und wir bekamen Artilleriebeschuß in ununterbrochenem Rhythmus. Es waren 2 Abschüsse und 2 Einschläge. Einmal links, einmal mitte und einmal rechts. Dann ging es wieder von vorn los und ununterbrochen. Erst beim Sonnenuntergang war Ruhe.

In dem Dorf gab es an jedem Haus kleine freistehende Backöfen. Sie standen hüfttief ummauert mit einem spitzen Dach und etwa 5 Treppenstufen und einer Holztür. Das ganze Dorf verkroch in diese Dinger, natürlich nur ein sehr unvollständiger Schutz. Für mich war kein Platz zum Sitzen mehr, den hatten die Frauen und Kinder. Ich stand direkt an der Tür und habe bei jedem Bum-Bum eine ganze Nacht lang Kniebeugen gemacht. Morgens konnte ich nicht mehr laufen. Den Dorfbewohnern war nichts geschehen. Wir wußten nicht weshalb wir den Beschuß bekamen, bis sich herausstellte, dass am Abend etwa 30 Ungarn ins Dorf einrückten und in der Schule sich einquartierten. Von ihnen hat nicht einer überlebt. Ich ging zu ihnen am Morgen und wollte Mor-Spritzen geben, aber ich versank im Halbdunkel nur mit meinen Reitstiefeln in zusammengematschte Leiber. War furchtbar. Somit war also nichts passiert. Nur unseren beiden Kühen waren die Schwänze gleich am Ansatz abgeschossen. Es hat ihnen gar nichts ausgemacht. Sie fraßen ruhig in ihren Boxen.

Dann kamen amerikanishe Panzer und Infanterie ins Dorf. Unsere Zimmer wurden durchsucht. Alles lief ganz ruhig und friedlich ab. Nicht die Spur von Aufregung. Drei Soldaten standen in der einen Ecke unseres Zimmers, Liane an der gegenüberliegenden. Ich unterdrückte mir das Lachen und hatte Liane überhört, die mir etwas zurief. Liane nervös: „Hörst denn nicht, ich red mit Dir.“ Darauf die Soldiers: Sie schoben ihre Helme über die Nase und sagten „She is first seargent“ und winkten mir mitleidig zu und gingen aus dem Zimmer. Das war unsere erste Feindberührung. Die Leute waren alle absolut anständig. Wir haben mit vielen Mann uns unterhalten. Sie waren sehr wißbegierig, sprachen aber immer wieder von unseren Leuten als „the best trained army of the world“. Einmal kamen russische Offiziere ins Dorf. Sie trafen mit amerikanischen Soldaten dort zusammen. Die Russen sprachen deutsch aber nicht englisch. Also mußte ich dolmetschen. Schließlich sagte ich: Ich fürchte, dass es noch Krieg zwischen Ihnen beiden gibt.“. Sie schauten mich fassungslos an, sie meinten, ich sei verrückt.

Den Friedensschluß haben wir dort oben erlebt. Am 10. November war der 1. Weltkrieg – Vater’s Geburtstag, am 9.Mai der 2.Weltkrieg zu Ende, Mutter’s Geburtstag. Folglich schließe ich messerscharf und logisch wie ein Hottentotte, es gibt keinen Dritten.“


In einem Gespräch am 13. Mai 2015 in Ludwag erinnerte sich Appolonia Reinlein an Ludwig Haller.

Damals, kurz vor dem Ende des Krieges, kamen viele Flüchtlinge mit der Bahn in Schesslitz an, von wo aus sie auf verschiedene Haushalte aufgeteilt wurden. Anscheinend waren auch Haller und seine Frau darunter.

Frau Reinlein war damals 11 Jahre alt. Sie lebte im 2 km von Ludwag entfernten Neudorf, ging aber in Ludwag in die Schule. Alle Kinder fürchteten sich vor dem „Mann mit dem schwarzen Auge“, seiner ganzen Erscheinung und seinem grossen Hund.

Ludwig Haller hatte beim damaligen Ludwager Wirt zur Kriegszeit eine Postenstellung inne. Seine Aufgabe war es, die ausländischen Zwangsarbeiter, welche bei den Bauern die Arbeitskraft der als Soldaten ins Feld gezogenen Männer ersetzen mußten, einzuteilen und des nachts wieder in das Sammellager (Tanzboden im ersten Stock beim Ludwager Wirt) zurück zu führen und zu überwachen.

Frau Reinlein kam später durch Heirat nach Ludwag.