Der nachfolgende Abriss aus Liah Falkenberg’s Leben, basierend auf ihren eigenen Aufzeichnungen, wird hier angeführt, weil er so manches an ihrer
Verhaltensweise und die daraus entstandenen dramatischen Konsequenzen für Haller’s Leben und sein Oeuvre erklärt.
Hildegard Elisabeth Falkenberg war seit ihrer Auswanderung nach Australien unter dem Namen Liah Falkenberg bekannt, weshalb dieser Name auch hier
verwendet wird.
Aber sie benutzte früher verschiedene andere Namen: Lia Fabee, Petra Lambert, Petra-Maria Charis.
Liah’s Großeltern, Alois und Anna Reisinger, lebten in Bayern in Unterschondorf am Ammersee. Dort betrieben sie im weit bekannten „Stüssi-Haus“ einen kleinen
Laden mit Drogerie, Fotogeschäft, Schreibwaren, Musikalien und Musikinstrumenten. Als deren Tochter Helene 18 Jahre alt war, wurde sie in eine Fotografenlehre
bei dem jüdischen Fotografen Karl Konrad Kurzrock in Wiesbaden geschickt, wo sie von Kurzrock mit Liah schwanger wurde. In der Folge entwickelte sich aber
kein weiteres Verhältnis zwischen Helene Reisinger und dem Fotografen.
So wurde Liah am 15. Oktober 1930 als uneheliches Kind im Hause ihrer Großeltern geboren. Als Liah zwei oder drei Jahre alt war, ging die Mutter nach
Belgien und ließ Liah bei den Großeltern. Dem Großvater wurde das Sorgerecht zugesprochen. Liah vermißte ihre Mutter sehr.
Liah erinnert sich, daß sie von ihrem Großvater oft geschickt wurde, die Vesper für ihn vom Metzger zu holen, selbst aber nichts abbekam und oft hungrig
blieb.
Liah sagt, sie konnte schon schreiben, bevor sie in die Schule kam, und sie sei ein gescheites Kind gewesen.
Im Februar 1935 heiratete Liah’s Mutter in Aachen den Witwer Josef Falkenberg. Er hatte eine Tochter aus seiner ersten Ehe, Renate – sechs Wochen jünger als
Liah.
Als Liah 7 Jahre alt war holte die Mutter sie rechtzeitig vor der Einschulung von den Großeltern zu sich nach Aachen. Dort wurden Liah und Renate als
Zwillinge ausgegeben. Um zu vertuschen, daß Liah einen jüdischen Vater hat, nahm Josef Falkenberg Liah als Kind an und erteilte ihr am 25. April 1936
offiziell seinen Familiennamen, jedoch ohne sie zu adoptieren.
Josef Falkenberg war Alkoholiker, schlug Liah’s Mutter und gab ihr kein Haushaltsgeld, hatte nebenbei andere Frauen und lehnte das „jüdische“ Kind ab. In einem
Brief an den Großvater bat Liah, zurück geholt zu werden. Mit einer Erkennungsmarke um den Hals wurde sie mutterseelenalleine in den Zug nach Schondorf
gesteckt. Dort angekommen, erkannte man sie nicht, weil sie in der kurzen Zeit so abgemagert war. Sie ging dann in Schondorf in die Schule.
Die Mutter zog mit ihrem Mann und Renate nach Markgröningen (Baden-Württemberg) um. Mit Beginn des Krieges wurde Josef Falkenberg eingezogen. 1939 richtete
Liah’s Großvater der Mutter in Mark Gröningen ein Fotoatelier ein, so daß sie ein Einkommen hatte. Liah lebte fortan bei ihrer Mutter und Ziehschwester und
half im Fotolabor.
Liah beklagt, daß ihre „Schwester“ Renate nicht so intelligent wie sie selbst war und nicht so gut in der Schule lernte. Um aber Renate nicht zu benachteiligen,
erlaubte die Mutter nicht, daß Liah auf die Oberschule oder das Gymnasium überwechselte.
Erst mit 13 Jahren wurden beide Mädchen für die Höhere Handelsschule angemeldet. Liah sagt, sie machte die Aufnahmeprüfung quasi doppelt, einmal für sich
selbst und dann zum gleichen Zeitpunkt für die neben ihr sitzende Schwester, so daß auch diese die Prüfung besteht. Hätte Renate die Aufnahmeprüfung nicht
bestanden, dann hätte wohl auch Liah diese Schule nicht besuchen dürfen.
Damals schon fand sich Liah in ihrer geistigen und beruflichen Entfaltungsmöglichkeit durch die Gleichstellung mit ihrer, wie Liah sich ausdrückte, „dummen“
Schwester eingeschränkt.
Liah fand sich auch insofern gegenüber Renate benachteiligt, daß Liah für alles mögliche von ihrer Mutter körperlich bestraft wurde, während Renate für die
gleichen Dinge straffrei ausging. Liah schreibt: "Meine Mutter wollte für Renate keine Stiefmutter sein, aber sie wurde die 'Stiefmutter' ihrer eigenen
Tochter. Mutter hat mich wohl als 'lediges' Kind abgelehnt, als Wesen gesehen, das eigentlich keine Existenzberechtigung hatte“.
1940, 1941 und 1944 bekam Liah Stiefgeschwister.
1944 verließ die Mutter mit den Kindern Markgröningen, da sie Repressalien in der Bevölkerung befürchteten. Josef Falkenberg war nämlich Ortsgruppenleiter der
SA und Waffen SS. Über verschiedene Stationen gelangten sie zum Großvater nach Unterschondorf.
Sofort nach Ende des Krieges kehrten sie nach Markgröningen zurück. Dort mußten sie feststellen, daß Nachbarinnen Mutters Kleidung trugen und ihre gesamten
fotografischen Apparate und Material von der Besatzungsmacht liquidiert worden waren. Sie litten großen Hunger, obwohl Mutter gute Fotos gegen Naturalien
bei Bauern eintauschte.
Liah durfte weiterhin und diesmal alleine die Höhere Handelsschule in Ludwigsburg besuchen, da Renate vernünftigerweise aufgab. 1947 bestand Liah die
Abschlußprüfung mit Auszeichnung und erhielt ein Stipendium für die Wirtschaftsoberschule in Stuttgart.
1948 kehrte Josef Falkenberg aus Kriegsgefangenschaft zurück. Er trank wieder oder immer noch. Da die Familie kaum Geld hatte, sich zu ernähren, wurde Liah
kurzerhand von der Schule genommen, damit sie das Geld verdienen konnte, das ihr Pflegevater in Alkohol umsetzte.
Liah sagt, es war auch ein Resignieren ihrerseits, da sie viel hungern mußte und ihr die Schule stets als Bevorzugung vorgehalten wurde. Sie begann nun eine
Lehre als Kontoristin in einer Konsumgenossenschaft.
Vermutlich in dieser Zeit verließ Liah das Elternhaus und wandte sich immer mehr von der Familie ab. 1948 und 1955 wurden nochmals zwei Stiefgeschwister
geboren. Liah haßte ihren Pflegevater und sie haßte ihre Mutter. Einzig zu Renate hielt sie Kontakt.
In ihrer Freizeit war sie in der katholischen Seelsorge freiwillig tätig. Ab 1951 wurde sie dann bei der Seelsorgestelle der Stadt Asperg, Kreis Ludwigsburg,
Baden-Württemberg, fest angestellt. Dort lernte sie Pfarrer Vogt kennen, der ihr geistiger Vater wurde.
Liah meldete sich im selben Jahr zu einem theologischen Seminar in Beuron an, wo sie 1953 die Abschlußprüfung als Katechetin bestand. Sie arbeitete bis 1974
in diesem Beruf an verschiedenen Schulen.
1963 machte sie eine Reise ins Heilige Land unter Prof Dr Herbert Haag, dem sie in der Folge bei dem Zusammenstellen eines biblischen Wörterlexikons half und
mit dem sie jahrelang ein Verhältnis hatte.
1966 starb Pfarrer Vogt. Es ist zu vermuten, daß Pfarrer Vogt ihr eine größere Summe an Geld hinterließ,
denn nur so läßt sich erklären, daß Liah ab diesem Zeitpunkt genug Mittel hatte, sich eine Eigentumswohnung, ein fabrikneues Auto und für 35.000 DM einen
Vollblutaraberhengst zu kaufen.
Im gleichen Jahr hatte sie jedoch auch einen schweren Reitunfall, wodurch sie einen Wirbelbruch erlitt und eine Zeit lang gelähmt war.
Wegen ihres freundschaftlichen Kontaktes zu Pfarrer Josef Freihalter wurde sie vom Bischöflichen Ordinariat abgemahnt. Das Verhältnis zur Kirche verschlechterte
sich. Auch aus diesem Grunde beendete sie ihre Tätigkeit in der Kirche und betrieb ab 1975 zusammen mit der Tierheilpraktikerin Hannelore Schröder ein
Vollblutaraber-Gestüt in Honigsee, südlich von Kiel.
Nebenbei ließ sie sich zum Naturheilpraktiker ausbilden.
1978 lernte sie bei einem Imago Mundi Kongress in Innsbruck den 24 Jahre älteren Ingenieur und Industriellen Joachim Uhing kennen, mit dem sie drei Jahre lang
ein Verhältnis aufrecht hielt.
1979 ist das Jahr, in welchem Liah zum ersten Mal Haller besuchte.
1982 war gefüllt mit dem Kauf teurer Kleidung und eines nagelneuen Jaguar Autos, dem Verkauf eines Grundstücks zu DM 600.000, Geldanlagen und Goldbarren in
der Schweiz und dem Kauf teurer Orient-Teppiche, und so weiter.
Im gleichen Jahr fing sie ein Verhältnis mit dem Immobilien-Millionär Julius von Mallesch an, der angeblich aus dem dänischen Königshaus stammt. Mit ihm
verbrachte sie einen Urlaub auf Gran Canaria.
1984 lernt sie bei einem Astrologie-Seminar den Vortragenden, Herrn Gerhard Zinn kennen. Dieser berichtete überschwänglich, daß er in Australien zusammen mit
drei anderen einen Ashram günden wollte, in einem Gebiet besten Klimas und fruchtbarer Erde, wo man als Selbstversorger leben kann. Auch seien Grundstücke billig.
Das erweckte in Liah großes Interesse. Ihr Traum von einem eigenen Sanatorium erhielt neue Nahrung.
Noch vor ihrer Reise nach Australien zusammen mit ihrem Freund von Mallesch im Februar 1985 ließ sie 170.000 DM von ihrer Bank auf ein australisches Konto
überweisen. Während dem 5-wöchigen Aufenthalt traf sie sich mit Gerhard Zinn und erkundete die angepriesene Gegend.
Wohl von Australien aus bestellte Liah im März 1985 in Deutschland einen rechtsgelenkten Range Rover Geländewagen zur Verschiffung nach Australien.
Im September 1985 wurden zwei Schiffscontainer mit Liah‘s Hab und Gut und den Haller’schen Werken beladen und nach Australien verschifft.
Am 11. Oktober 1985 kam Liah in Cairns an und heiratete vier Tage später Ian Lambert, um über eine Scheinheirat nach Australien einwandern zu können. Nach
einem langen Kampf mit den Behörden erhielt sie die Aufenthaltsgenehmigung. Die Ehe wurde nie vollzogen und erst 1992 offiziell geschieden.
Bei ihrer Ankunft hatte sie bereits ca 480.000 DM auf australischen Konten liegen. Es sollten noch 200.000 DM folgen.
Am 27. Februar 1986 verstarb Ludwig Haller in Deutschland.
Im Juli 1986 kaufte sich Liah ein 73 Hektar großes Grundstück in Queensland, Australien, auf den Atherton Tablelands, hoch oben auf dem erloschenen Vulkan
Bones Knob bei Tolga.
Liah’s „Ehemann“ Ian Lambert war mit Bill Youngston befreundet, welcher im Ort Mareeba, unweit von Liah’s Grundstück, eine dubiose Einrichtung betrieb, The
Youngston Institute of Natural Science. Dieses Institut war mit der "Medicina Alternative / Open International University for Complementary Medicine" affiliert
und bot verschiedene Kurse und Titel an. In erster Linie aber ging es um das Bezahlen des festgesetzten Titelpreises.
Ein Titel des "Associate Professors" kostete US $ 2000-3000, ein Doktortitel US $ 300.
Am 12. Dezember 1997 wurde Liah von diesem Institut feierlich der Titel des "Associate Professors in Clinical Nutrition" von der Faculty of Natural Medicine
der Y.I.N.S. Colleges Worldwide verliehen.
Im August 1999 folgte dann der "Bachelor of Natural Science", und im Januar 2001 der Titel eines "Doctor of Philosophy".
Allerdings hat Liah nie in ihrem Leben auch nur einen Fuß in einen Universitäts-Vortragssaal gesetzt, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß sie für diese
Titel wissenschaftliche Arbeiten erbringen mußte.
Die Titel kamen ihrem großen Geltungsbedürfnis sehr entgegen: Obgleich es ihr durch ihre Eltern verwehrt blieb, das Abitur zu machen und zu studieren, durfte
sie sich jetzt doch noch Dr. Falkenberg nennen. Fortan legte sie großen Wert darauf, auch entsprechend angesprochen und bezeichnet zu werden. Erhielt sie z.B.
ein Schreiben, wo die Titel in der Anrede fehlten, ergänzte sie diese erzürnt auf dem betreffenden Papier.
Liah gierte förmlich nach Geld, um ihren Lebenstraum zu erfüllen: ein Sanatorium zu bauen, das sie „Art of Life Centre“ nennen wollte.
Ihre große Hoffnung lag in den Haller’schen Werken, von deren Verkauf sie sich Millionen erhoffte, wenn Haller endlich in aller Welt als Künstler bekannt
würde. Da man in Australien an Haller’s Kunst kein Interesse zeigte, noch dazu, wo alle Werke verpackt und im Original nicht zu sehen waren, versuchte Liah,
über Mittelsmänner Interesse in den USA zu finden. In Gedanken malte sie sich aus, wie sie die Millionen ausgeben würde. Doch die Erwartungen in das
Haller’sche Werk als Vermögensquelle wurden nicht erfüllt.
Ab ca 2002 wurde Liah bereitwilliges Opfer von Geld-Scams. Täglich fiel sie auf Angebote herein, für eine Vorleistung von einem relativ kleinen Betrag von
25 bis 200 Dollar Information zu bekommen, wie man ganz schnell reich wird. Sie verbrauchte ein Scheckbuch nach dem anderen, und es wurde zur täglichen
Routine, zu ihrem Postfach in Tolga zu fahren, in Erwartung neuer Angebote, und um Schecks abzusenden.
Im April 2003 flog sie blauäugig und geldgierig nach Südafrika, um durch die Ablösung eines Dokuments per Zahlung einer „Gebühr“ in Höhe von $ 15.000 einen
Betrag in Millionenhöhe heimzubringen. Doch dort saugte man weitere tausende Dollar aus ihr heraus. Zum Glück weigerte sich ihre Bank, das Grundstück am
Bones Knob als Sicherheit für ein Darlehen von $ 100.000 zu akzeptieren, andernfalls sie auch diesen Betrag und das Grundstück verloren hätte.
So arm sie als Kind aufgewachsen war, so sehr genoß sie ab den 1980er Jahren, mit viel Geld umgeben zu sein, einen Jaguar zu fahren und Geld in der Schweiz
angelegt zu haben. Teure Kleidung, Theaterbesuche, wertvolle Möbel, ein Segelboot und andere kostspielige Dinge erfüllten sie mit berechtigter
Genugtuung.
Dennoch wurde sie in ihrem späteren Lebensabschnitt sehr geizig sich selbst gegenüber. Lieber investierte und verlor sie tausende von Dollars in dubiosen
Geldschwindeleien statt sich gesunde Nahrung und Komfort zu gönnen. In der Tat bettelte sie in Gemüsegeschäften um "Futter für ihre Tiere", lebte aber dann
selbst von den nicht mehr verkäuflichen Produkten.
Bei jeder Gelegenheit beklagte sie, sich alles vom Mund absparen zu müssen. Sie hat auf diese Weise das Mitleid vieler Menschen hervorgerufen, welche ihr Geld
spendeten oder Zeit für sie opferten. Ihre Rente stellte sie als Almosen hin, von dem man nicht leben kann. Dabei erhielt Liah eine monatliche Rente aus
Deutschland in Höhe von über 1800 Euro.
Der Gedanke daran, daß ihre Mutter und ihr Pflegevater sie wegen ihrer Schwester unfair behandelt haben, ihr nicht Zugang zum Abitur und einem Studium
ermöglichten, sie von der Schule genommen und geschlagen haben, bereitete Liah bis ins hohe Alter oft schlaflose Nächte. Täglich sprach sie davon. Am
15.08.2008, also mit 78 Jahren, änderte sie aus Haß auf den Namen Falkenberg und ihre Familie den Familiennamen offiziell zurück in ihren Geburtsnamen
Reisinger.
In den letzten Jahren ihres Lebens baute Liah geistig stark ab, litt unter zunehmender Demenz.
Am 8. September 2010 wurde Liah als vermißt gemeldet. Man fand ihr Auto zwei Kilometer von ihrem Grundstück entfernt im Buschland. Vermutlich hatte sie sich
am Abend des 5. September auf dem Nachhauseweg verfahren. Im Eukalyptuswald wollte sie wohl umdrehen, blieb in einem Loch stecken und hat sich beim Versuch,
nach Hause zu finden, offensichtlich im Wald verloren. Sie wurde trotz wochenlanger intensiver Suche durch Polizei und Technischem Hilfswerk nie
gefunden.
Liah war derart von sich, ihren Fähigkeiten und auch ihrem Rechtsverständnis eingenommen, daß sie es ablehnte, ihr Testament von einem Anwalt auf
Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.
Obgleich Liah immer wieder Kontakt mit ihrer Ziehschwester Renate pflegte, wollte sie Jahrzehnte lang mit ihrer Mutter und ihren fünf Stiefgeschwistern nichts
zu tun haben. In einem Brief vom September 1981 schreibt sie: “Will eventuell einen e.V. gründen, um meine Mutter und vor allem meine Stiefgeschwister, denen
es letzlich ja doch zufiele, als Erben auszuschalten.“
Am Ende geschah jedoch genau das, was sie vermeiden wollte. In Ihrem eigenhändig formulierten Testament befanden sich keine Anweisungen für den
Testamentsvollstrecker, so daß all ihr Hab und Gut, inklusive den hunderten in ihrem Besitz befindlichen Haller Gemälden genau den Personen zugesprochen wurde,
denen sie nichts zukommen lassen wollte.
So kostete Liah’s Starrsinnigkeit nicht nur ihr Leben, da sie sich vehement weigerte, ein mobiles Telefon zu benutzen, mit dem sie, in welcher Lage sie auch
immer war, hätte Hilfe rufen können, sondern diese führte auch dazu, daß das Schicksal des Haller Vermächtnisses in eine völlig ungewollte Richtung
verlief.
Liah Falkenberg’s Beschreibung der Zeit mit Haller
Am 10. Juni 1979 trat Liah Falkenberg in Haller‘s Leben ein. Sie selbst beschreibt die Begegnung wie folgt:
Der Morgen war klar, lichtdurchflutet und warm. Die Sonne spielte im Tau der Blätter und Gräser. Der würzige Duft des erwachenden Landes lockte zu tiefen
Atemzügen. Ich fuhr mit halb geöffneten Fensterscheiben. Der kleine Zeiger der Uhr stand auf 5. Die Autobahn gehörte mir fast allein.
Die gut aufliegenden Räder meines Ford Capri sollten mich von Kiel in Richtung Bamberg bringen. Das genaue Ziel hieß Schloss Pommersfelden. In meinem Gepäck
befanden sich etliche Skizzen und Zeichnungen, die ich vor 12 Jahren als Schülerin der Akademie ABC de Dessin in Paris gemacht hatte. Ich wollte sie dem
Professor zeigen, zu dem ich unterwegs war.
Von der Mitpatientin und Bildhauerin Dagmar hatte ich acht Wochen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus dessen Telefonnummer und seinen Namen erhalten mit
dem Hinweis, dies wäre der einzige Maler, der meinen hohen Anforderungen gerecht werden könne. Er sei ein richtiger Weiser und ungemein hilfreicher Mann, voll
von Tips, mit viel Zeit für Lernwillige, wenn er der Ansicht sei, fruchtbaren Boden vorzufinden. Immerhin war ich schon 48 Jahre alt, so dass ich keine Zeit
verschenken konnte, wenn mein Entschluss, mich im Zeichnen und Malen ausbilden zu lassen, Früchte tragen sollte.
Ich war guten Mutes, fuhr auf einen Parkplatz. Leuchtende Feldblumen vereinten sich mit verschiedenen Gräsern zu einem Strauß. Ich band ihn mit Grashalmen
zusammen. Er sollte meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, dass Professor Ludwig Haller-Rechtern mich als Schülerin angenommen, als ich mich telefonisch
vorgestellt und gefragt hatte, ob er mir Unterricht geben wolle.
Beim letzten Telefonat hatte ich erfahren, dass Haller-Rechtern’s Frau vor wenigen Monaten gestorben war. Ich hatte auch zwischen den Worten heraus gehört,
dass die Wunde, die ihr Scheiden bei ihm geschlagen hatte, noch frisch, nicht verheilt war. Ich würde unter Umständen einen gebrochenen, hilflosen Mann
vorfinden. Konnte ein vom Schicksal Geschlagener, vielleicht am Boden Zerstörter, mir etwas beibringen, mir Mut geben, an mich selbst zu glauben und
durchzuhalten? Ich war gespannt auf die erste Begegnung.
Dank der exakten Beschreibung von Professor Haller-Rechtern, fand ich mich auf dem Schlossgelände gleich zurecht. Alles erschien jedoch anders, als ich es mir
in meiner Phantasie ausgemalt hatte. Im Gegensatz zu dem alten, jedoch imposanten Schlossgebäude, fand ich das Gebäude, in welchem Haller-Rechtern wohnte,
eher einer Sozialwohnung vergleichbar. Auf mein Klingeln in der Fasanerie öffnete ein selbstbewusstes, nicht unschönes kleines weibliches Wesen mit
schwarzen Augen: „Der Herr Professor speist gerade. Wenn Sie sich etwas gedulden wollen?“
Ich ging zurück zu meinem Wagen, setzte mich auf den noch warmen Sitz und schluckte meine erste Enttäuschung mit Dickmilch hinunter. Ich konnte noch nicht den
Boden des Bechers sehen, als ich bei offener Wagentür, zufällig aufschauend, im Türrahmen eine dunkel gekleidete, große Erscheinung bemerkte. Was ich im
Blickfeld hatte, war kein gewöhnlicher Mensch. Zunächst wirkte seine eisige Ausstrahlung erschauernd auf mich. Aus einem verbitterten Gesicht sah ich ein
Auge streng und prüfend auf mich gerichtet. Das andere war ersetzt durch ein schwarzes Glas. Einem Cherub ähnlich, Dämon und Engel zugleich, stand er
unbeweglich in der Türe: mein zukünftiger Lehrer.
Die Erscheinung stimmte mit dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, in nichts überein. Ich vermisste den gütigen Blick unter der hohen, schön
geschwungenen Stirn. Die langen weißen Haare verlockten zum Zöpfeflechten. Seine auffallend abweisende Haltung jedoch ließ mich überlegen, ob ich überhaupt
aussteigen oder besser dem Schloss sofort den Rücken zukehren solle. Der Saturn in mir mahnte, nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen, und behauptete
sich.
Mein negativer Eindruck beim Empfang verstärkte sich noch, als ich wenig später in seiner Behausung ihm gegenüber saß. Er schien ein Kettenraucher zu sein. An
Aschenbechern und Zigarettenschachteln fehlte es nicht. Nikotin schluckende Röhrchen lagen en masse herum, ebenso Streichhölzer. Der Schreibtisch war ein
einzigartiges Chaos. Papier, Bücher und Zeitschriften türmten sich auf ihm. Der mehr als abgenützte Teppich wies Brandlöcher auf. Bilder, Bücher, Wände, der
ganze Mensch spuckte den für mich unerträglich penetranten Geruch des Nikotins aus. Ich gab mir Mühe, mir die aufkommende Übelkeit nicht anmerken zu
lassen.
Als ich schüchtern begann, ihm meine Zeichnungen vorzulegen, fällte er sofort ein vernichtendes Urteil: „Das ist ja schauderhaft! Wer hat Ihnen denn das
beigebracht?“ Ich erwähnte meinen Fernkurs bei der Pariser Akademie de Dessin. Deren Professoren schimpfte er Scharlatane, die vor den Kadi gehörten. Die Wut
über den seiner Meinung nach nicht zu verantwortenden Dilletantismus dieser Herrn brachte sein Blut zum Kochen. Er schmetterte den von mir zu seiner
Orientierung und Einsichtnahme mitgebrachten vierten Band des Fernkurses auf den Boden, redete sich in Eifer und Schweiß: „Von denen können Sie rein gar
nichts lernen. Vergessen Sie möglichst schnell, was Sie da alles gelesen haben - wenn ich Ihnen einen Rat geben darf.“ Er mäßigte sich: „Auf diese Weise
können Sie nie ein Portrait malen oder einen Akt. Malen Sie Blumen, meinetwegen noch Zweige oder Landschaften. Geben Sie sich gar keine Mühe. Beschränken
Sie sich. Was ich mache, können Sie niemals. Schon einfach deshalb nicht, weil Sie eine Frau sind!“
„Solch eine Frechheit. Typisch Mann!“ schoss es mir durch den Sinn, „ganz und gar von seiner Herrlichkeit überzeugt und überzogen“. Ich begann, den Cherub vor
mir weniger ernst zu nehmen.
Seine darauf folgende heftige, scharfe Kritik, die wohl dem Zwecke der Einschüchterung oder zur Prüfung dienen sollte, prallte an mir ab, ohne mich nennenswert
zu verletzen. Ich stellte dies sachlich fest und dachte: „Er trägt dick auf, dramatisiert wie ein Wassermann, ist vergrämt und verbittert, weil er sich mit
dem Alleinsein nicht abzufinden vermag.“
Haller-Rechtern prüfte mein Wissen um große Maler. Ehe ich antworten konnte, demütigte er mich. „Sie wissen ja gar nichts.“ „Ich weiß, dass ich nichts weiß,“
entgegnete ich. „Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.“
Seine nicht endenwollenden dramaturgischen Ausbrüche hellen Entsetzens sich geduldig anhörend, saß ich auf der vordersten Kante des Sessels, sprungbereit,
beim ersten längst fälligen Luftholen seinerseits abrupt aufzustehen und dem offenkundig misslungenen Versuch ein Ende zu setzen. Ich hörte mich im Geiste
schon sagen: „Entschuldigen Sie, Herr Professor, dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch genommen und Ihnen so wenig Freude bereitet habe. Ich werde in
zwei Stunden bei Freunden erwartet.“
Gerade, als ich mich erheben wollte, begann Mautze, eine fast gelähmte, nur noch aus Knochen und Haut bestehende Katze, umständlich und mühsam an mir
hochzuklettern. Ich rührte mich nicht. Haller-Rechtern sah gebannt zu: „Das hat sie seit dem Tod meiner Frau bei keinem Menschen gemacht. Hätte sie auch gar
nicht gekonnt. Eigenartig, sehr merkwürdig.“ Mautze gelang es schließlich, sich an mir hochzuziehen und richtete ihre großen Augen fragend auf mein
Gesicht, schmiegte ihren Kopf daran und legte sich im Zeitlupentempo besitzergreifend in meinen Schoß. Haller-Rechtern war sprachlos und fasziniert
zugleich. „Na, so was!“ Mir war die völlige Veränderung seines Gesichtsausdruckes nicht entgangen. Vor mir saß jetzt ein ganz anderer Mensch. Was mochte
in ihm vorgegangen sein? Später sollte ich es erfahren.
Mich drängte es, aufzubrechen. Ich wollte noch einen Besuch bei Freunden machen, ehe ich wieder nach Hause fuhr. Von den jetzt weicheren, aufgehellten
Gesichtszügen meines Gegenüber wollte ich mir lieber nichts versprechen. Er versuchte einzulenken: „Nein, bleiben Sie hier. Sie haben eine lange Fahrt
hinter sich. Vielleicht kann ich Ihnen doch irgendwie helfen, Ihnen etwas beibringen. Seien Sie nicht traurig darüber, dass Sie keine Gelegenheit hatten,
an einer Kunstakademie zu studieren. Alle Akademien taugen nicht viel. Sie haben nichts versäumt. Kommen Sie mit, ich will Ihnen etwas zeigen.“
Er bat mich, mit hinüber zu gehen in die Orangerie, in deren geräumigem Saal so viele Bilder an den Wänden hingen, dass ich nicht wusste, wohin ich meine
staunenden Seelenfenster zuerst richten sollte. Eine ganze Weile ließ ich das Geschaute in aller Stille auf mich wirken. Dann konnte ich, von Eindrücken
überwältigt, mich nicht mehr halten, musste sprechen, mein Empfinden schildern. Diesmal war es der Meister, der lauschte, und wie es mir schien, andächtig
lauschte.
Ich wiederum konnte nicht verstehen, dass er nicht wie ich den vielfältigen Ausdruck seiner Bilder wahrnahm und empfand. Ich war fasziniert, gefesselt. Solche
Bilder hatte ich noch nirgends zu sehen bekommen.
Die Erotik in seinen Werken empfand ich als angenehm und akzeptabel für jeden Kunstinteressierten. Von der nicht selten brutalen, fast geschmacklosen
Sexualität moderner Maler war hier nichts zu sehen. Statt dessen sprang aus Haller-Rechtern’s Bildern eine beachtlich kraftvolle Dynamik. Selbst das
Chaotische in manchen seiner Bilder war einem höheren Sein, der Harmonie untergeordnet, erhielt einen Sinn in der Aussicht auf das Vollendete.
Der Maestro war überrascht, dass die Bilder, die mir am besten gefielen, identisch waren mit den Lieblingsbildern seiner heimgegangenen Frau.
Auch Liane mochte außer dem Paradiesbild und der noch über ihrem Bett hängenden, in jeder Beziehung strahlenden Pomona, besonders die im backstein-valeur
gemalte Flötenspielerin mit Pferd, den hauchartigen, eschatologischen, Flöte blasenden Hirten, die spielerisch gemeisterte Auffindung des Moses, den
liegenden, das Wissen um die weibliche Macht darstellenden Akt.
Als wir die Türe der Orangerie hinter uns schlossen, wusste ich plötzlich, dass Haller-Rechtern mich getestet hatte. Unvermittelt kam er auf Mautze, das
kranke Skelett, zu sprechen. „Das Verhalten meiner Mautze von vorhin gibt mir immer noch zu denken. Seit dem Tode meiner Frau konnte sie sich kaum noch
bewegen, schon gar nicht eine Höhe erklimmen oder auf einen Stuhl springen. Ich verstehe das einfach nicht. Dies hat etwas zu bedeuten“. Er rückte noch
nicht heraus mit dem, was er im Schilde führte, fragte nur so obenhin: „Sind Sie verheiratet? Können Sie mit einer Schreibmaschine umgehen?“
Erfreut über die für ihn positive Antwort, dass ich mit der Schreibmaschine umgehen könne, bot er sich an, mir ein Zimmer zu besorgen. Spannungsgeladen wie
Glockenschläge einer nahen Turmuhr fielen seine Worte in den inzwischen etwas gelüfteten Raum: „Vielleicht kann ich Ihnen doch etwas beibringen in der
Malerei. Helfen Sie mir, und ich helfe Ihnen.“
Der Eisberg begann zu schmelzen, seine Abneigung, Reserviert- und Zugeknöpftheit mitsamt dem Argwohn abzunehmen. Eine Mischung aus Erhabenheit und
Hilflosigkeit, Weisheit, Güte und einem Rest Misstrauen war übriggeblieben. Aber ich spürte noch etwas anderes, die Fangarme einer Spinne, die im Begriffe
war, mir das Mark aus den Knochen zu ziehen. Was mochte dies bedeuten? Was wollte er von mir?
„Fünf Monate sind es jetzt, dass ich meine Frau verloren habe“, erzählte er mit Tränen in den Augen. „Ich kann es immer noch nicht fassen und mache mir die
heftigsten Vorwürfe, dass ich nicht gegen ihren Willen früher einen Arzt gerufen habe. Sie könnte heute noch leben, wollte nie zugeben, krank zu sein. Alles
habe ich ihr zu verdanken. Habe von ihrem Geld gelebt, als die Nazis mir die Professur aberkannten und mir verbaten, als Maler zu arbeiten. Sie hat für mich
wichtige Kontakte geknüpft. Ich arbeite seit vierzig Jahren an einer Kunstphilosophie und bin nicht im Stande, sie zu Ende zu führen, endlich
herauszubringen. Ich habe niemand, der mir hilft. Ich bin am Ende in jeder Beziehung.“
Ich hörte aufmerksam zu. Haller-Rechtern’s Worte klangen wie ein Hilferuf, wie ein Schrei in einsamer Nacht.
Ich hätte ihm zu gern geholfen. Es fehlten mir jedoch einige Voraussetzungen für diese Arbeit. Anschauliche Philosophie interessierte mich zwar genauso wie
Kunst. Aber wenn ich an meine teils lückenhafte Schulbildung dachte, musste ich mir eingestehen, ich war nicht die Person, die ihm helfen konnte, zumal
Doktoren und Professoren nach seinen eigenen Worten damit nicht weitergekommen waren, versagt hatten. Das Thema war wohl auch nicht leicht, eher
anspruchsvoll.
Ich hörte mich zum Abendessen ins Restaurant eingeladen. Während ich mit meiner Forelle beschäftigt war, nahm Haller-Rechtern das Gespräch auf: „Ich will
Ihnen beibringen, dass ich Ihnen nichts beibringen kann. Meine Überzeugung ist, dass man Kunst weder lehren noch lernen kann. Der wirkliche Künstler hat
alles in sich. Er bedarf lediglich der fördernden Kritik. Ich halte die Akademien für so gut wie überflüssig. Ein in der Schweiz lebender Maler hat das
einmal so ausgedrückt: ‚Jedes Duodezfürstchen wollte sein Akademiechen’. Deswegen haben wir in Deutschland deren so viele.“
Haller‘s Kotelett bestand mehr aus Knochen als aus Fleisch. Außerdem konnte er essen und sprechen zugleich: „Es ist eine betrübliche Tatsache, dass die
Akademien seit ihrer Gründung nicht einen einzigen großen Künstler hervorgebracht haben, und dass nicht ein einziger großer Künstler Lehrer war, Ingres
ausgenommen, welcher Direktor der Römischen Akademie gewesen war. In Frankreich, dem seit zwei Jahrhunderten einzigartigen Land der Bildenden und Schönen
Künste, ist ein Akademieprofessor etwas Zweitrangiges. Weder Delacrois noch Corot, noch Courbet, weder Césanne noch Renoir, noch Dégas, weder Lautrec noch
van Gogh, noch Seurat oder Rousseau sind Akademieprofessoren gewesen. Braque und Picasso erst recht nicht. Die Akademien sind keine Nachfolger der
Bauhütten geworden. Aber auch aus früherer Zeit ist nicht bekannt, dass ein großer Maler der Schüler eines großen Malers war. Wiederum eine Ausnahme,
welche die Regel bestätigt: El Greco, der bei Tizian angefangen haben soll. Bedenken Sie: Paris hat durchschnittlich im Jahr 60-90 Tausend bildende
Künstler. Ganz Deutschland hat nicht mehr. Die Akademien dürfen nicht mit den üblichen Hochschulen verglichen werden. Kunst ist kein Zweckberuf. Es
gibt nur eine ganz große Kunst oder gar keine. Das klingt seltsam und ist Außenstehenden kaum verständlich zu machen.“
Er lehrte mich, dass die Seh-Impulse von außen auf den Menschen zukommen (in der Archaik), dass sie den Menschen von innen und außen angreifen, (was wir mit
Klassik bezeichnen), oder dass sie ihn ausschließlich von innen erfassen (Gotik und Barock). Ich fragte ihn, ob es denn möglich sei, dem Pneuma wieder zu
seinem Recht zu verhelfen und damit die Kunst vor dem völligen Untergang zu retten?“ „Dazu will ich ja mein Buch vollenden. Ich habe doch als einziger in
unseren Breiten das Pneuma wiederentdeckt“, ereiferte er sich. „Aber kein Maßgeblicher will auf mich hören. Ich komme mir vor wie ein Einsamer in der Wüste,
dessen Ruf ungehört verhallt. Alles scheint verdreht, verkehrt in seinem Wert und Sinn. Es ist, als ob ich starren Wänden raten wollte, sie sollen ihr Auge
nicht auf den alltäglichen, übelriechenden Hinterhof richten, sondern zu den ewigen Bergen blicken, den rasch ziehenden Wolken nachschauen, das
pulsierende fröhliche Leben in sich aufnehmen oder ihm entgegengehen. Schmiere eine Holzwand zu und sie atmet nicht mehr, ist immun gegen die Einflüsse
der Umwelt. Das Gros der Menschen, so scheint mir, ist zugedeckt mit unnötig hemmendem, immunisierendem Ballast...“
Vor wenigen Stunden noch sagte der Meister zu mir: „Sie müssen zeichnen und malen wie Rousseau: übereinanderschichten, logisch aneinander reihen, harmonisch
verteilen, die Formen in Ruhe komponieren. Sie können das. Dies liegt Ihnen. Aber nicht meine Akrobatik. Ich bin ein Artist, ein unruhiger Geist, verzettelt.
Ich habe mir immer so sehr gewünscht, wie Rousseau in aller Ruhe und Gelassenheit aufzubauen und in Etappen zu malen. Ich konnte es nie und kann es nicht.
Meist wusste ich gar nicht, was ich malen will. Und vieles habe ich wieder weggewischt, weil es nichts taugte. Dann taugte nicht selten das ganze Bild
nichts. Meine Sachen sind gewissermaßen aus einem Guss, wenn sie einen Wert darstellen sollen.“
Als ich mich am nächsten Tag zum Essen auf einen bestimmten Stuhl setzen wollte, meinte die Seele von Hausmütterchen: „Warten Sie, ich bringe Ihnen einen
anderen. Auf diesen darf sich niemand setzen. Es ist Frau Haller’s Stuhl. All ihre Requisiten liegen seit ihrem Todestag am gleichen Platz, nichts darf
verändert werden. Ihr letztes Gedeck liegt ständig auf dem Tisch. In den Schränken darf ich nicht Ordnung machen. Manchmal ist es nicht einfach.“
Ich konnte ihn verstehen. Mir war es vor dreizehn Jahren ebenso ergangen, als ich meinen liebsten Menschen (Pfarrer Vogt)
verloren hatte. Ich wollte
mit Haller-Rechtern reden, ihn aus seiner Neurose langsam lösen und befreien.
Es gefiel ihm, dass ich ihm Frühstück und Abendbrot bereitete, ein wenig für ihn sorgte, es ihm etwas gemütlich machte, so dass er eines Tages den Mut
aufbrachte, gemeinsam mit mir zu Liane’s Grab zu gehen. Auf dem Rückweg meinte er: „Frau Stark hat Sie ins Herz geschlossen. “Ich nickte: „Sie fragte mich
gestern, ob ich nicht als Gesellschaftsdame bei Ihnen bleiben könne.“
Am Nachmittag hatte ich à la Rousseau Pflanzen und Bäume (nach dem Hand - Gottes - Pneuma) angefertigt, eine kleine Landschaft ‚komponiert’. Der Meister war,
im Gegensatz zu mir selbst, einigermaßen zufrieden. Er meinte, es würde schon noch werden, mit der Zeit würde sie sicherer und könne dann Großes
schaffen.
Er war bestürzt, dass ich insgesamt nur eine Woche bleiben wolle. Er hatte mit mehreren Wochen gerechnet. Die zermürbende Einsamkeit warf ihre Schatten
voraus.
Am nächsten Morgen, dem 15. Juni 1979, fragte er mich, ob ich nicht Lektorin machen wolle für das von ihm geschriebene Buch, die Ontoeidetik. Er bat mich,
gleich nach Tisch mit dem Lesen zu beginnen, damit ich noch einen Eindruck gewönne. Ich möge auch prüfen, ob nicht ganze Seiten vorgezogen und anders
geordnet werden müssten. Er könne dies nicht. Außerdem stoße es ihm auf, immer wieder sein eigenes Produkt lesen zu sollen.
Ich fand die 28 Seiten über das Eidolon, Homer, Penelope, Athena hochinteressant. Es war Haller-Rechtern gelungen, mich für seine Arbeit zu
begeistern.
Er war völlig geknickt, dass ich morgen abreisen wolle. Ich möge bald wiederkommen, wenn möglich für ganz. Er würde den Domänendirektor fragen, ob ich nicht
das Häuschen im Wildpark mieten könne. Er brauche eine Mitarbeiterin für sein Buch. Und sie würden doch gut zusammenarbeiten, harmonieren. Auch Frau Stark
bat in liebenswürdiger Weise: „Kommen Sie bald wieder!“ Ich fühlte mich bedrängt. Ich konnte lediglich andeuten, ich würde ihn – sobald es mir möglich –
wieder einmal besuchen.
Haller-Rechtern hatte am 25. Juni den Domänendirektor wegen des Häuschens im Wildpark gesprochen. Voll Freude rief er mich an: „Sie können das Häuschen haben.
Aber es muss erst gerichtet werden. Sie sollten es sich bald anschauen, da noch viel Zeit vergeht, bis Sie es beziehen können.“ Ich fühlte wieder dieses
Drängen. „Das Buch bedrückt ihn. Er hält mich offenbar für den letzten Helfer aus der Not“. „Wann kommen Sie? Fahren Sie über Hannover?“, sprudelte es aus
ihm heraus. Ich wunderte mich. Ich hatte in keiner Weise zugesagt, dass ich hinzöge. Er wollte und sollte nur fragen, völlig unverbindlich, ob die
Möglichkeit bestünde, in diesem Häuschen am Teich zu wohnen. Aber so war er. Alles musste schnell gehen. Möglichst sofort. Er besaß eine raffinierte Art,
Wünsche als bereits erfüllt zu sehen und sie als Faktum hinzustellen. Mochte der andere darauf hereinfallen, stutzen, sich wundern, damit abfinden oder
sich kräftig seiner Haut wehren, Einspruch erheben. Was kümmerte es ihn?
Abends rief er mich nochmals an: „Der Verleger hat mir die restlichen Druckfahnen geschickt. Morgen habe ich dann alles vorliegen. Sie können kommen und mit
der Arbeit beginnen.“
Warum wehrte ich mich nicht? Ich wusste, ich war mit dieser Sache mehr als überfordert, und hatte dies deutlich und mehr als einmal zum Ausdruck gebracht. Er
aber klammerte sich an mich, als ob ich ein festes Tau wäre, an dem er sich sicher aus dem Meer des Untergangs herausziehen könne.
Am 1. Juli teilte Haller-Rechtern mir telefonisch mit: „Mein Kollege Beck braucht für die Uni dringend so eine Art Potpourri aus meinem ganzen Buch. Ich
möchte das gerne mit Ihnen gemeinsam machen. Können Sie gut Maschinenschreiben?“ „Bin darin ausgebildet. Ich könnte frühestens Anfang August bei Ihnen sein.“
„Gut, dann werde ich Prof. Beck den 15. August als Termin nennen. Bis dahin schaffen wir das wohl?!“
Sechs Tage später rief ich ihn an: „Nach meinem Astrologie-Studium kann ich leider nur für drei Tage im August zu Ihnen kommen, da ich hier das gesamte
Arabische Vollblut zu versorgen habe.“
Auf dem Wege zu diesem Astrologieseminar machte ich am 22.7. einen Abstecher nach Pommersfelden, um das Häuschen im Schlosspark anzusehen und dem Förster des
Grafen meine Änderungswünsche mitzuteilen. Es musste viel gerichtet und neu eingebaut werden. Das idyllisch gelegene Haus war verwahrlost, die Wände infolge
geringen Lichteinfalls feucht.
Da ich am nächsten Tag abreisen musste, nahm ich Haller-Rechtern‘s Versprechen ab, eventuell auftretende falsche Hemmungen über Bord zu werfen und mich
einfach anzurufen, falls er sich elend oder verlassen fühle, die Dunkelmänner der Sheol ihn bedrängten. Er dankte, und Tränen traten in sein Auge. Wenn
ich wiederkäme, wolle er mir vielleicht sagen, wie er sein rechtes Auge verloren habe. Jetzt könne er es noch nicht.
Ehe ich abreiste, wusch ich ihm noch die Haare, schließlich den ganzen kranken, schwachen, entmuskelten Mann, der früher eine sportliche, drahtige
Erscheinung gewesen sein mochte. Ich erschrak über die Raucherbeine im fortgeschrittenen Stadium. Auch die Füße waren blau, die Zehen teilweise schon
abgestorben. Als ich ihn anschließend ins Bett brachte, wusste ich, dass auch in einem alten Mann trotz Hilflosigkeit und Schwäche das Herz eines Mannes
schlägt.
Nachdem ich tags darauf den Arbeitsplan für September besprochen hatte, drängte ich zum Aufbruch. Als Haller-Rechtern mir dankend die Hand küsste, fragte ich
schelmisch: „Darf ich mich revanchieren mit einem osculum in fronte?“, unterließ es jedoch, dies auszuführen. Es war mir gelungen, dass er das Scheiden
nicht isoliert, sondern als notwendige Vorstufe künftiger Zusammenarbeit betrachten konnte.
Der August war angefüllt mit Telefonaten, in welchen Ludwig Haller-Rechtern mir seine Einsamkeit klagte, eine wachsende Sehnsucht gestand und schließlich
seine Liebe und einen Heiratsantrag mir zu Füßen legte. Ich erschrak ein wenig. Was wusste er auch schon von mir?! War ich verprellt, enttäuscht worden oder
mit einem anderen Mann verbunden? Ich war lediglich an seiner Arbeit interessiert und wollte ihm helfen, seine Aufgabe zu erfüllen. Er möge sich keinen
Illusionen hingeben, sondern Arbeit und Privatleben fein säuberlich auseinanderhalten.
Ich wollte ihm eine Schwester sein, ihm helfen, sein Werk zu vollenden, nannte ihn Monsieur, dann Louis. War ich besonders gut gelaunt, entschlüpfte mir die
Bezeichnung „Louis le Grand“. Auf seinen mehr fragenden Einwand erwiderte ich dann nur: „Für mich bist Du Louis le Grand, für die andern gewiss auch, sobald
sie Deine Werke mit geschultem Auge sehen, Deinen klaren, hochtiefen Geist, Deine Weisheit begreifen.“
Gegen Abend des 2. September 1979 fuhr ich nach Pommersfelden, stürzte mich auf die Arbeit, bestürzt darüber, dass Louis die zu bearbeitenden Druckfahnen
alle durcheinander gewirbelt, jedoch nicht wieder sortiert hatte. Er redete sich heraus, dies sei ihm deswegen nicht geglückt, weil bei einigen Blättern die
Seitenzahl und auch ganze Blätter fehlten. Wir besprachen die notwendigen unzähligen Einschübe, einige umzustellende Texte.
Als ich den Kommentar auf Louis’ Maschine schreiben wollte, sprang das Farbband ständig hoch, so dass am Ende vom Geschriebenen nichts zu lesen war. Die
Voranstellung musste ganz neu zusammengestellt, die Einschübe wieder und wieder geändert, der meiste Text völlig überarbeitet werden. Hinzu kam, dass nicht
wenige Kapitel, untereinander vermischt, teilweise den Sinn verkehrend, erst zu sortieren waren.
Als mir von seiner Non-Stop-Qualmerei die Augen brannten, überliefen, so dass ich kaum sehen und eine philosophische Abhandlung nicht fließend vorlesen konnte,
riss Louis der Geduldsfaden. Er brüllte los und tadelte mein Unvermögen. Ich konnte mich kaum aufrecht halten vor Rückenschmerzen. Ich vergaß, dass Louis
nachmittags über meine berechtigte Textkritik erstaunt und ebenso erfreut war. Ich glich einem winzigen Häufchen Elend: „Jetzt ist es soweit“. Ich hatte ja
gewusst, dass ich zu dieser Arbeit nicht tauge und mit ihm nicht zusammenarbeiten kann. Als er sich ausgetobt, mit kränkenden Worten großzügig um sich
geworfen hatte, stand ich, Tränen in den Augen, leise auf und wollte nach oben gehen.
Louis entschuldigte sich: „Seit Liane’s Tod bin ich überreizt. Früher war ich ruhiger“. Frau Stark kam zu mir, die vor dem Haus frische Luft schöpfte und
meinte: „Er kann ganz schön heftig werden. Seine Frau hatte sich so manches Mal bei mir ausgeweint“...
Louis litt an Verdauungsstörungen, Darmträgheit, zu hohem Blutdruck und Herzrasen. Trotzdem weigerte er sich oft, Arznei zu nehmen und schimpfte Liz eine
Medikamentenfanatikerin.
Die nächsten 14 Tage waren beladen mit Eifersuchtsszenen, in denen Louis mir vorhielt, ich wäre zu meinen Siamesen Katzen viel freundlicher als zu ihm. Wurde
ich am Telefon angerufen, war Louis anschließend vor Eifersucht kaum noch zu ertragen.
Tobsuchtsanfälle und Weinkrämpfe wechselten ständig bei ihm. Ich hatte gegen Minderwertigkeitskomplexe anzugehen und heftige Schmerzen durchzustehen. Die
einzige Waffe, die ich ins Feld führen konnte und deren Geschoss jederzeit ins Schwarze traf, war die Androhung meiner sofortigen Abreise. Ich machte sehr
selten davon Gebrauch. Hielt sich Louis jedoch - meist in vor Ärger erregtem Zustand - nicht an unsere vereinbarten Abmachungen, die beispielsweise darin
bestanden, dass er in meiner Gegenwart nicht rauchte und generell nicht mehr in dem Raum, in welchem ich manchmal bis zu 20 Stunden am Tage und in der
Nacht arbeitete, und kränkte er mich obendrein noch mit den Worten, ich würde mir die Nikotin-Unverträglichkeit nur einbilden, durfte ich nur meine
entzündeten, tränenden Augen auf meinen Siamesenkater Aladin richten und mit qualmgeräucherter Stimme, gerade noch hörbar, zu diesem sagen: „Komm, mein
Aladin, wir fahren nach Hause. Dort haben wir bessere, gesunde Luft zum Atmen“; dann ging Louis vor das Haus, um draußen seine nicht abreißenden
Rauchopfer darzubringen.
Auch der Kamelstute, wie Louis mich meiner Geduld wegen neuerdings nannte, ging zuweilen diese Geduld aus. Zu spät bemerkte ich, dass Louis offenbar an
akuten Durchblutungsstörungen litt, denn manchmal konnte er einer von mir klar und präzise gestellten Frage einfach nicht folgen. Nach Missverständnis und
anschließendem Disput setzte er sich dann in einen Sessel und lachte aus vollem Halse: „Das finde ich großartig! Wir schreien uns gegenseitig an, als wären
wir zehn Jahre miteinander verheiratet“. Es kam vor, dass ich mich wehrte: „Ich habe nicht geschrieen. Bin nur etwas heftig geworden, damit Du endlich
still bist und einmal hinhörst. Schließlich habe ich kein Spülwasser in den Adern“. „Nein, meine rassige Vollblut-, meine edle Kamelstute“, bestätigte
Louis. Er fand solch Geplänkel herrlich.
Ich war übernächtigt, überarbeitet, nervös und brauchte Ruhe. Louis jedoch gefiel sich darin, mich mit jeglichem täglichen Kleinkram von der Arbeit, die
äußerste Konzentration erforderte, abzulenken. Er nörgelte an allem und jedem herum, was ich mir schließlich energisch verbat. Dann wieder sang er
Lobeshymnen auf meine Person und meine Arbeit, meine Geschicklichkeit.
Louis hatte sich so lange eingeredet, unpraktisch veranlagt zu sein, bis er tatsächlich die flinke Wahrnehmung und das schnelle Zupacken einbüßte, die ihm
als gewandter Sportler beim Reiten, Tanzen und Boxen früher eigen waren. Ich blickte tiefer. Der psychologische Hintergrund ließ unverarbeitete Neurosen aus
Louis’ überforderter Kindheit und Jugend erkennen. Von Vater und Mutter, die seit seinem vierten Lebensjahr in Scheidung lebten, ständig hin- und hergezerrt,
von beiden angezogen und jeweils vom andern abspenstig gemacht, hatte er sich in eine erwartende, leicht fordernde Haltung hineinbegeben. In übertriebenem
Maße verlangte es ihn nach Geborgenheit, Umsorgtsein und Bedientwerden. Obwohl er beispielsweise wusste, dass ich noch eine lange, mit Arbeit gefüllte
Nacht vor mir hatte, mutete er mir Verrichtungen zu, die er durchaus selbst erledigen konnte. Ich zog ihm diesen ‚Zahn’ sehr schnell. Er war sich dabei
nicht bewusst gewesen, dass er ständig um sein hungriges und verletztes Ich kreiste, und dass er damit alle auf ihn niederprasselnden Schicksalsschläge
zwangsläufig selber angezogen hatte.
So jedenfalls erklärte ich es mir. Louis konnte meiner Meinung nach aus diesem Teufelskreis erst herausfinden, wenn er begann, seine innere Einstellung zu
ändern, seine Gedanken in positive Bahnen zu lenken. Ich wollte seinem Wunsche entsprechen und ihm dabei behilflich sein.
Abgesehen davon, dass es ihm mächtig Spaß machte, sich von mir verwöhnen zu lassen - vom appetitlich zubereiteten Essen angefangen bis zum tiefsinnigen
Gespräch beim magisch flackernden Licht sich verzehrender Kerzen, schaffte er zuweilen selbst Materialien herbei und wunderte sich, dass er schwierige Dinge
zu tun vermochte, nur weil ich sie ihm zutraute. Sätze wie: „Das kann ich nicht“, oder „das habe ich noch nie getan“, gewöhnte er sich unter meinem
liebevollen, aber dennoch strengen Zepter schnell ab.
Mochte es reizvoll für ihn sein, mich in diesem einen Punkt schnell auf die Palme klettern zu sehen, -nicht nur, weil ich ihm wohl noch schöner und
begehrenswerter erschien- er bildete sich sicher auch ein, es als Zeichen werten zu dürfen, dass er mir nicht ganz gleichgültig sei.
Manchmal machte Louis mir die Arbeit zur Qual. Fand er gestern einen von ihm diktierten Text gut, musste ich ihn heute zerreissen. Oft war er müde, schlapp,
von Blutdruck senkenden Mitteln benommen, geistig abwesend. Oder aber er war die ganze Sache leid, schimpfte auf frühere Mitarbeiter, tobte, lief wie ein
Verrückter hin und her, erregte sich bis zur Weißglut über Fehler, die den Setzern unterlaufen, telefonierte hinter meinem Rücken an den Verleger innerhalb
der Setzarbeiten immer neue Änderungen durch, wollte ganze Kapitel herausgenommen wissen und fürchtete sich schließlich selbst vor seiner Unbeständigkeit
und Ungeduld. Er schickte an den Verleger ein Blatt, worauf er bestätigte, dass dieser weitere Änderungswünsche nur mit der ausdrücklichen Billigung von
mir berücksichtigen möge.
Ich war manchmal der Verzweiflung nahe. Bei fauchendem Ölofen, in Wolldecken eingewickelt, eine Wärmflasche auf dem Schoß, auf die zweite die Füße stellend,
saß ich nächtelang, nicht selten bis es draußen tagte, korrigierte, schrieb, tippte, trennte und baute zusammen. Meist konnte ich erst ungestört arbeiten,
nachdem ich Louis ins Bett geschickt, aus dem Zimmer gedrängt hatte.
Louis ging es bei seiner Seinslehre der Kunst hauptsächlich darum, Verschüttetes auszugraben, damit die unumstößlichen, für alle Zeiten geltenden Prinzipien
wieder erkannt, nach ihnen gearbeitet werde und somit die Kunst erneut die Aufgabe erhielt, die in besonderem Maße ihr zukam: die Völker zu bilden und
einander näher zu bringen. Natürlich musste er sich in der Ontoeidetik schon raummäßig auf die Malerei, speziell die skulpturale Malerei - die große Kunst
- beschränken, aber im Grunde galten die Prinzipien in gewandelter Form für jegliche Kunst.
Am 5.11.79 lasen wir gemeinsam den zweiten Teil der dritten Korrektur. Um 3 Uhr morgens schickte ich Louis zu Bett. Ich hatte noch Korrekturen, Einschübe
zu schreiben, Überschriften zu erdenken, alle Korrekturen auf die Kopie zu übertragen, da mir kein Kopiergerät zur Verfügung stand. Gegen Morgen
fotografierte ich etliche Bilder, sowie die Konstruktionszeichnungen, die in die Ontoeidetik mitaufgenommen werden sollten.
Nach 3 Stunden vormittäglichen Schlafes ließ ich meinen Wagen Richtung Heimat rollen. Da ich nach eigenartigen Erlebnissen der festen Überzeugung war, dass‚
dunkle Kräfte’ Louis’ Werk nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollten, das Manuskript für die zweite Hälfte des Buches nur als einmaliges Original
vorhanden war, ließ ich es mir nicht nehmen, die ganzen Skripten dem Verleger persönlich zu übergeben.
Liah vor der Orangerie
Über ein Jahr verging, bis ich Louis und die ihm anvertrauten Siamesen Katzen wieder begrüßen konnte. Am Heiligen Abend 1980 hatte Louis mich, nachdem ich
zwei Unfälle hinter mir hatte und in dreimonatiger Tag- und Nachtarbeit die beiden letzten Korrekturen der Ontoeidetik bewältigte, sowie einen Auszug für
das Salzburger Jahrbuch der Philosophie 1980 erstellt hatte, durch einen Chauffeur aus dem Norden zu sich bringen lassen. Er selbst war viel krank gewesen.
Die Betreuung durch mich hatte ihm gefehlt. Er trug und litt noch an den Folgen einer Digitalisvergiftung.
Nach den Feiertagen gab Louis mir Unterricht. Er ließ mich Dürer kopieren. Dann stand er mir selbst Modell. Meine ersten drei Arbeiten waren in den
Proportionen verschoben und wirkten unbeholfen, aber keinesfalls dilettantisch, wie Louis zu verstehen gab. Dem Bleistift folgte die Kohle, dann Pinsel und
Farbe. Ich malte als erstes meinen Meister. Louis war gut zu erkennen, er selbst für den Anfang zufrieden. Aus Freude und Dankbarkeit über mein erstes
Bild malte mein Pinsel ein ‚Louis le Grand’ darunter. Bei klirrender Kälte mit klammen Fingern malt es sich jedoch nicht leicht.
Von mir darauf aufmerksam gemacht, hatte Louis festgestellt, dass gut die Hälfte seiner Bilder durch Feuchtigkeit stark gelitten hatte, nicht wenige total
verdorben, einige durch unachtsame Lagerung zusammengeklebt waren. Mit den Zeichnungen verhielt es sich nicht besser.
Es musste sofort etwas geschehen. Die einzige Möglichkeit, dem Übel abzuhelfen, bestand darin, die noch ordentlichen Bilder und Zeichnungen an einen trockenen
und sicheren Ort, die beschädigten zum Restaurator zu bringen. Da die Kostenfrage des Transportes ein wunder Punkt in der ganzen Angelegenheit war, nahm Louis
dankbaren Herzens das Angebot eines meiner Naturheilkunde-Mitstudenten, Hermann Lampe, an, alles in einem Pferdetransporter zu verfrachten und nach Bamberg
in den Keller von Bekannten zu bringen.
Schließlich brach Louis auch im Schloss seine Zelte ab, da die feuchte Wohnung seiner Gesundheit nicht förderlich war. In meinem Anwesen in Nord-Deutschland,
das den verheißungsvollen Namen VIVAT trug, malte Louis mehrere Monate mit mir zusammen. Vier große Bilder entstanden: „Die Auffindung des Moses“, „Echo und
Narziss“, „Romulus und Remus“, „Daphne und Apollo“ und mehrere Akte von mir.
Louis hatte seit Liane’s Tod keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt. Ich erlebte, wie es urgewaltig über ihn hereinbrach, wie er mit sicherer Hand Bild um Bild
erstehen ließ, meist eines über das andere malte, bis einmal ganze sieben über dem ersten lagen, zu meinem Ärger. Denn es dünkte mich schade um jedes Werk,
das zugestrichen, für immer verloren war. Meist wollte Louis nur etwas ändern. Doch es wurde stets ein Neues daraus.
Er hatte sich innerlich noch nicht darauf eingestellt, dass mein Freund Joachim Uhing ihm eine größere Anzahl Malgründe geschenkt hatte, er mit dem Material
nicht mehr zu geizen brauchte. Ich hatte ausserdem Leinen zur Verfügung gestellt, an die Wände meines großen Wohnzimmers genagelt und präpariert.
Es war ein schönes Schaffen, durchbebt von Gewittern, begleitet von Beschaulichkeit, Sonnenauf- und Untergängen und befruchtenden Gesprächen. Zuweilen schienen
die Nerven zum Zerbersten gespannt, was mich des öfteren veranlasste, eine Treppe höher zu steigen.
„Louis’ gemeinsames Schaffen und Malen mit mir wurde abrupt abgebrochen und beendet, da das Anwesen VIVAT in Honigsee/Kiel, das ich zusammen mit der
Tierheilpraktikerin Schröder zu ungleichen Teilen innehatte, verkauft werden musste.
Louis nahm das frühere Angebot des Hermann Lampe an, umsonst in dessen ohnehin leerstehendem Jagdhaus in Leck, nahe der dänischen Grenze, zu wohnen. Mir war
angeboten worden, im dortigen oberen Stockwerk einzuziehen. Meine Intuition riet mir jedoch, das Angebot nicht anzunehmen. Ich überließ Louis die
Siamesen-Kätzchen zur Gesellschaft.
Wir hielten rege telefonische Verbindung, während ich für ihn und auch für mich selbst auf Wohnungssuche war.
Am 17., 18., 19. Februar 1981 musste sich Louis mehreren Prostata-Operationen unterziehen.
Ich fuhr am 26. Februar nachts mit dem Zug nach Bamberg, um am 27. Februar in Pommersfelden Graf Schönborn von Wiesentheid, sowie Dr. Irle und Herrn Lange zu
treffen, die gemeinsam unter meiner Anleitung 10 Bilder von Professor Haller-Rechtern aussuchten. Damit ward der aus meiner Sicht vom Rechtsanwalt des Grafen
sehr einseitig aufgesetzte Testamentsvertrag annulliert und endgültig aus der Welt geschafft. Ich brachte Louis’ restliche Bilder und Skizzen zunächst nach
Bamberg in einen Keller von Bekannten, da Graf Schönborn darauf bestanden hatte, die Wohnräume Louis’ in Pommersfelden müssten sofort geräumt
werden.
So fuhr ich total übermüdet nach all den Strapazen des Räumens von Louis’ Wohnung zurück nach Vivat-Honigsee.
Am 6. März besuchte ich Louis. Den ganzen Februar und März war ich auf Wohnungssuche für ihn. Endlich, am 14. März fand ich eine geeignete Mansardenwohnung
oberhalb des Hotels ‚Kiautschou’ in Borgdorf-Seedorf, sehr schön, direkt an einem See gelegen. Die Besitzerin, Renate Harder, war gerne bereit, auch für
Louis’ leibliches Wohl zu sorgen.
Ludwig Haller und Liah Falkenberg 1981
Am 18. März wurde Louis erneut im Niebüller Krankenhaus operiert.
Am 5. April musste Louis nochmals operiert werden. Am 8. April wurde ich angerufen, ich könne am 1. Mai in das von mir besichtigte Haus in Bosau einziehen.
Am 25. April besuchte ich Louis. Der Chirurg hatte ihn wissen lassen: „Herr Professor, wir können nichts mehr abhobeln. Wir sind am Ende“.
Heinz Ansel aus München, welcher sich selbstlos angeboten hatte, Louis’ Werk bekannt zu machen, war so freundlich, den Transport der von mir aus
Pommersfelden nach Bamberg gebrachten Bilder für deren nächste Unterkunft in München zu organisieren.
Am 9. Juli rief Heinz Ansel an: „Ausstellung in Venedig möglich“. Er scheute keine Mühe und ließ alle seine Beziehungen spielen, in Italien durch einen
italienischen Mitarbeiter, George Rustia, eine Wanderausstellung von Louis’ Werken durchzuführen, beginnend in Trieste, dann Udine, Venedig, Florenz, Rom
etc. Am 20. Oktober erlitt Louis einen kleinen Herzanfall. Heinz Ansel rief am 26. November an: „Direktor Dr. Horst Stierhof von der Bayerischen
Schlösserverwaltung München ist von Prof. Haller-Rechtern’s Bildern und Zeichnungen fasziniert, er will positive Kritik schreiben, sucht 30 ihn
ansprechende ‚Erotika’ aus“. Er bat mich, die entsprechenden Daten dafür anzugeben.
Am 10. Dezember 1982 ereilte mich ein Anruf von Heinz Ansel’s Mitarbeiter, George Rustia. Louis’ Bilder für die Wanderausstellung in Italien müssten noch vor
dem Heiligen Abend in Trieste sein. Am Sonntag, dem 12. Dezember fuhr ich mit meinem Architekten über Winterthur/Schweiz, wo ich 2 weitere Bilder bei einem
Bekannten abholte, nach Trieste und lieferte dort am nächsten Tag 32 Bilder ab. Es war hin und besonders zurück eine mörderisch winterliche Fahrt über
Pässe , durch Tunnels und steil abschüssige Straßen, die das Gefühl des ‚Stehens im Auto’ aufkommen ließen, und es hatte mich eine ganze Stange Geld
gekostet, nicht nur an ‚Sprit’. Außerdem forderte George Rustia DM 2.000.– für Rahmung, obwohl die meisten Bilder in meiner Ansicht gut genug gerahmt
waren, da die Bilder in ihrer großen Ausdruckskraft, selbst in bescheidenen Rahmen, für sich selbst sprechen.
Am 28. Januar 1983 erlitt Heinz Ansel einen Herzinfarkt. Dies hinderte ihn jedoch nicht, sich weiterhin für Louis’ Werk tatkräftig einzusetzen. Bereits am
31. Januar hatte er eine Ausstellung in der Münchner Residenz vom 8. - 30. März organisiert, die Louis und ich zu unserem Leidwesen absagen mussten, als wir
kurz darauf im Vertrag lasen, dass außer der genannten Miete von DM 2.250.– für 8 Aufseher pro Tag je DM 64.– hinzu kämen, was weit über unser Budget
hinausging.
Am 2. Februar erfuhren wir von Heinz Ansel: „Dr. Stierhof bringt heute Abend die Buchbeschreibung der Ontoeidetik, die als Einlage für den Triester Prospekt
gedacht ist. Er kauft ein Bild von Louis und hängt es mit Beschreibung und Bezug zur Ontoeidetik in die Alte Residenz in München. Er will auch mit mir nach
Trieste fahren und dort die Wanderausstellung eröffnen“. Am 15. März rief ein frohlockender Ansel an: „Dr. Stierhof erhält Dienstreise nach Trieste!
Ausstellung dort ist im Mai. Er will bis dahin die Ontoeidetik ganz durchackern, um noch mehr darüber zu schreiben“. Dann wurde allerdings von George Rustia
der ‚neue Ausstellungstermin’ 25. Juni - 9. Juli angekündigt, welcher wiederum nicht stattfand. -
Im April 1985 reiste ich mit Julius von Mallesch für dreiwöchige Ferien nach Australien.
Am 18. Juni rief George Rustia an: „Will nächste Woche nach Trieste fahren, um die Ausstellung ‚gründlich’ vorzubereiten. Die Bilder sind alle wohlbehalten
bei mir in meinem Kinderzimmer, das ich dafür geräumt habe. Im Pressezentrum wäre für den langen Zeitraum die Versicherung zu teuer geworden. … Haben Sie
Dank für Ihre große und lange Geduld“. Es war eine nicht endende Verzögerung durch ständige Versprechungen, welche keine Erfüllung fanden. Er schien
unüberwindliche Schwierigkeiten mit den Triester Galerien zu haben.
Am 7. August setzte Heinz Ansel ihm eine Frist von 8 Tagen, die Bilder nach München zurückzuschaffen, da offensichtlich mit einer Ausstellung nicht zu rechnen
war. George Rustia versprach sodann am 22. September und mehrmals später ‚unter Ehrenwort’, die Bilder von Trieste nach München zu bringen, was - wenigstens
für das letzte Drittel - etwa 15 Bilder, immer noch anhängig ist, so dass diese schließlich mit enormen Kosten abgeholt und extra verschifft werden müssen.
Er war offenbar total überfordert mit der ganzen Angelegenheit. Dies kostete Heinz Ansel, Louis und mich mehr Nerven, als wir verkraften konnten.
Am 8. Mai 1985 flog ich nach München zu Ansel, um die von Rustia zurückgebrachten Bilder zu fotografieren und zu archivieren, was offenbarte, dass mindestens
15 Bilder fehlten: 9 von den von mir nach Trieste gebrachten und mindestens 6 aus dem Bamberger Lager.
Am 13. Juli rief Dr. Klein von Kiautschau an: „Prof. Haller-Rechtern hat Hinterwand Herzinfarkt, wahrscheinlich ist es letzte Nacht passiert. Er kommt noch
heute mit dem Hubschrauber ins Rendsburger Krankenhaus“. Ich besuchte Louis am 14. auf der Intensivstation. Dr. Herweg erklärte mir, nach 3 - 4 Tagen
Intensivstation müsse Louis 3 - 4 Wochen in der Internen bleiben. Am 2. August konnte er entlassen werden.
Am 21. August nahm Prof. Dr. Friedrich Piehl in Heinz Ansel’s Keller Louis’ Bilder in Augenschein, sich sehr wundernd, dass Louis nicht der Öffentlichkeit
bekannt sei. Selbst ein Ontologe, stellte er fest, dass die „Passagen der Ontoeidetik, die ihm zugänglich, ganz vorzüglich sind“. Er hatte vor, mich zu
besuchen. Aber auch dies wussten die ‚Götter der Unterwelt’ zu verhindern.
Eine Speditionsfirma holte am 22. August die von Trieste zurückgebrachten Bilder in München ab, mindestens 15 fehlten noch immer. Rustia schien nun nicht zu
wissen, wo diese sich im Moment befänden. Dies alarmierte Louis, so dass er sich schließlich gezwungen sah, zwecks der sich noch in Trieste befindenden
Bilder, die Kripo einzuschalten. Ich lieferte Photos und Dias, jedoch auch dies blieb fruchtlos. Heinz meinte: „In seiner Gerissenheit und Intelligenz
versteht er es immer wieder, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen“.
Am 22. September wurde Louis erneut ins Rendsburger Krankenhaus eingeliefert, diesmal mit 2-Bahnen Vorder-Herzinfarkt. Ich besuchte ihn sofort.
Am 23. September 1985 wurden die bereits in Ölpapier und Holzkisten verpackten Bilder Louis’ in einen Container für Australien geladen. Ich hatte mich
entschlossen, die Bilder, mit Louis’ Gutheißen und Einverständnis, nach Australien in Sicherheit zu bringen, ich selbst wollte am 5. Oktober fliegen. Ich
hatte schon ein ‚Multiple Entry Visa’ erhalten.
Am 4. Oktober 1985, dem Tag vor meinem Abflug nach Australien, besuchte ich Louis noch einmal im Krankenhaus.
Ich rief Louis regelmäßig an, ohne ihm jedoch von meinen großen Sorgen zu erzählen. Am 29. November sagte mir Louis vom anderen Ende der Welt: „Ich bin so
glücklich, ich denke fortwährend an Dich. Ich liebe nur Dich“.
Am 30. November 1985 hatte Louis eine weitere Prostata-Operation, erzählte er mir am 7. Dezember. Er wolle zu mir nach Australien kommen, er habe schon DM
1.000.– vom Krankengeld gespart. Als ich ihm am 10. Februar 1986 zum Geburtstag gratulierte, sagte er: „Ich will Dich heiraten“! Am 25. Februar hatte ich ein
langes Gespräch mit ihm, das letzte, denn am 27. fiel er um wie ein gefällter Baum und war sofort tot. (Liah liess Ludwig Haller einäschern und im Grab
seiner Frau Liane in Pommersfelden bestatten.)
Gedanken zu den Folgen der Begegnung Haller’s mit Liah Falkenberg auf seine Person und auf seine Werke.
Liah muss Haller wie ein Engel aus dem Himmel, ein Retter in der Not vorgekommen sein. Durch ihr Auftauchen bestand die Aussicht, von einem attraktiven
weiblichen Wesen umgeben zu sein und die Veröffentlichung seiner kunstphilosophischen These, der Ontoeidetik, voranzutreiben und zu Ende zu
bringen.
Ob aus reiner Einsamkeit oder weil Liah eine starke weibliche Attraktion auf ihn ausgestrahlt hat, Haller drückte von Anbeginn ein Verlangen nach ihr
aus.
Dieses Verlangen stand dem ernüchternden Bewusstsein entgegen, dass Liah während der Bekanntschaft mit Haller erst mit Joachim Uhing und dann mit Julius von
Mallesch ein Verhältnis hatte und offensichtlich kein Interesse zeigte, Haller eine Partnerin zu sein, geschweige denn ihn zu heiraten. So lebte Haller seit
Liah’s Auftauchen in einem für ihn schrecklichen Wechselbad der Gefühle. Einmal stand ihm dieses Wesen nackt als Aktmodell vor Augen, dann kam das
Bewusstsein, dass die grösste Annäherung an sie lediglich die Anrede „Mein liebes Schwesterlein“sein durfte.
Sein Verlangen nach ihr machte ihn geradezu hörig, und er folgte letztlich allem, das sie vorschlug, auch wenn er gegen seine innere Überzeugung handelte.
Was war sein Leben alleine schon wert, was konnte er verlieren? Da gab es ja immer und stets die Chance, dass es sich Liah anders überlegen
könnte.
Zwischendurch wurden seine Gedanken nüchtern und er bereute die Änderungen, jedoch jeweils zu spät.
Die beiden Entscheidungen, die wohl die grössten Veränderungen für sein Leben und seine Werke bewirkten, waren das
Verlassen des Schlosses Weissenstein
und die
Verlagerung der Werke nach Australien.
Haller hatte einen rechtlich bindenden Vertrag mit dem Grafen von Schönborn, welcher ihm lebenslanges und kostenloses Wohnrecht einräumte. Das Wohnrecht war
sogar im Grundbuch eingetragen. Warum würde jemand einen solch vorteilhaften Vertrag lösen?
Es mag sein, dass die Sandsteinbauten kühl und feucht waren, doch dagegen gibt es Abhilfen, und sei es nur in der Form von Heizung. Doch das war, wie so manch
anderes in Haller’s Leben, eine Frage der Kosten. Statt Haller geradezu zu drängen, in ein anderes, noch dazu völlig unbekanntes Domizil am anderen Ende von
Deutschland zu wechseln, hätte Liah Haller leicht finanziell unterstützen können, um die klimatische Situation in der Fasanerie und der Orangerie zu
verbessern. Damals schon besass sie genügend finanzielle Mittel hierfür. War ihr Haller das finanzielle Opfer nicht wert? Noch dazu, wo er ihr alle seine
Werke, die sie so wertvoll einschätzte, (vertragswidrig) übertragen hatte?
Hals über Kopf verliess Haller das Schloss (der Heizungsöltank gerade voll getankt), ohne zu wissen, was ihn in Norddeutschland erwartet. Dort fiel die
Ernüchterung wie ein Gewitter auf ihn ein. Das „Jagdhaus“ von Architekt und Bauunternehmer Hermann Lampe in Leck (vermutlich Flensburger Strasse 67)
erwies sich als eine fast unbewohnbare Behausung auf einem industriellen Abfallgelände, ohne jegliche Möbel und mit einer Heizung, die noch weniger
funktionierte als die in der Fasanerie. Haller beklagte, Liah’s Vorschlag gefolgt zu sein, doch die Entscheidung war bereits getroffen.
Zum Glück fand sich die Pension Kiautschou am Plöner See als Lösung, wo Haller dann doch noch komfortabel und umsorgt seinen Lebensabend verbringen
konnte.
Gravierender waren die Veränderungen für Haller’s Werke. Diese wurden zunächst in einer Nacht- und Nebelaktion von Hermann Lampe in einem Pferdetransporter nach
Norddeutschland gebracht, wo sie zwei weitere Umzüge mitmachen mussten. Es handelte sich um schätzungsweise 300 grösstenteils grossformatige Gemälde, und es
ist kaum auszumalen, wie ungeschützt und grob diese Werke transportiert und in verschiedenen Häusern des Hermann Lampe und bei anderen Leuten gelagert
waren.
Die Orangerie des Schlosses Weissenstein dagegen bot viel Platz zum Malen, Ausstellen und Lagern, eigentlich ein idealer Ort, und kostenfrei
obendrein.
Während Haller in dem Anhang zum Erbvertrag mit dem Grafen grossen Wert darauf legte „…dass die von Ludwig geschaffenen Kunstgegenstände nur an Museen und
private Personen verkauft werden dürfen, die eine Kunstsammlung besitzen“, gingen die Werke nun einer unsicheren Kunst-Zukunft entgegen.
Letztendlich landeten sie 1986 in Australien, wo sie bis 2013 in den Originalkisten verpackt blieben, ohne dass Liah irgendetwas mit den Bildern anfing oder
sich um deren Zustand kümmerte.
Nachdem die Bilder von Liah’s Erben nach Deutschland zurück gebracht wurden, ist über deren Verbleib nichts bekannt.
Haller’s letzter Brief an Liah
Der Inhalt von Haller’s letztem Brief an Liah vom 1. Juni 1985 erscheint wie ein verzweifeltes, letztes Aufbäumen und Entrüsten eines Ludwig Haller, der,
trotz der durch Liah’s Hilfe veröffentlichten Ontoeidetik, enttäuscht von Liah war und zusehen musste, wie seine Angebetete, seine Hoffnung, aber auch all
seine Werke aus seinem Leben verschwanden.
Über Haller’s Kopf hinweg entschied Liah, die Werke nach Australien zu bringen, um sich dort durch den erwarteten Verkauf Ihren Traum von einem Sanatorium zu
erfüllen. Liah wusste um Haller’s Gesundheitszustand. Am 22. Juli 1985 fragte sie bei der Spedition Tischendorf in Kiel an, was die Überführung
der Leiche Haller’s nach Pommersfelden kosten würde.
Obgleich sie also um Haller’s Gesundheit wusste und es zu erwarten war, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, verschwendete sie keine Zeit, ihrer
Auswanderung Vorrang zu geben, statt „ihren“ Louis le Grand bis zu dessen Heimgang Beistand zu leisten und zu pflegen. Dieses selbstsüchtige Verhalten
mag die Frage aufwerfen, ob Liah überhaupt das moralische Recht hatte, über Haller’s Werke zu bestimmen und deren potentiellen materiellen Wert für sich
zu beanspruchen. Das Gleiche gilt nun auch für Liah‘s Erben.
Liebes Schwesterchen,
Nun ist es leider soweit, dass wir uns trennen müssen. Genau seit vier Wochen täglich hast Du mich angelogen. Du hast die 100.000 Mark längst bekommen
(welche Liah ihrem Freund von Mallesch geliehen hatte)
und ich wusste es. Ich nehme an, Du hast die grösste Dummheit Deines Lebens gemacht. Sicherlich
hast Du sofort die Summe in Australien investiert. Du glaubtest sehr schlau zu sein, indem Du mich laufend abgehalten hast, in Hamburg
(bei von Mallesch)
anzurufen, „wir sollen ihm nicht hinterherlaufen“. Ich laufe niemandem hinterher, weder ihm noch Dir. Deine dauernden
Beleidigungen im St Pauli-Stil habe ich satt. Es war richtig, dass Du mir zum Abschied absichtlich „unbemerkt“ keine Hand gabst.
Leider ist es ( ...? )
so, dass Du ( dir )
mit mir und meiner Arbeit wegen eine immense übermenschliche Arbeit aufgelastet hast. Ich will nicht,
dass Du Dich deshalb ruinierst. Dass Deine Verbindung mit Deinem Guru für Dich tödlich ausgehen wird, ist mir klar. Du sagst, Du willst warten bis ich tot bin.
Ich verspreche Dir, mir Mühe zu geben, bald tot zu sein. Leider haben wir miteinander noch vieles zu erledigen. Morgen werde ich wegen der Bilder in Leck den
Anwalt anrufen. Auch wünsche ich, dass Du Dich mit Dr. Stierhoff in Verbindung setzt. Ich bat ihn vor einiger Zeit, sich mit den Hallers (?)
in
Nürnberg in Verbindung zu setzen. Dein Freund „Heinz“ wird ( ...? ).
Aus Deinem Traum, eine Art Trainingshalle und Ausstellungsraum für Bilder in
Australien zu bauen, wird nichts. Ich habe immer noch Anrecht, auch nach meinem Tode, über Unterbringung meiner Arbeiten zu bestimmen (darüber zu
bestimmen, wo die Bilder nach seinem Tode untergebracht sein sollen).
Es tut mir leid, dass Deine intensiven Bemühungen (Haller bekannt zu machen)
vorläufig noch keinen Erfolg hatten. Ich glaube, man muss es anders machen: mich nicht als „Maler“ vorzustellen, sondern als „Geisteswissenschaftler“, wie es
Beck getan hat. Ich habe (Dank Deiner Hilfe)
„veröffentlicht“, und gegen eine Uni kann kein Hanswurst was sagen. „Haller malt auch“. In der
kommenden Woche will ich auch den Hamburger Kunstmann anrufen – er sollte Dich ja in Bosau besuchen. Es tut mir schrecklich leid, dass Du
meinetwegen wieder zusätzliche Rückenschmerzen hast. Wirf meine Arbeiten einfach weg, ich meine die Dias. Tippe mir bitte noch die beiden
Schriftsätze. Schreibe mir bitte nicht, sondern rufe mich an. Beschere mir ein freundliches Andenken.
Ludwig. Wenden!
Eben bekomme ich einen Kurzanruf aus Australien. Ich wusste, dass einige Offiziere in meinem Alter ihre Söhne – einst gefangen – in Australien leben. Der
Anruf lautet “um Gotteswillen. Pfoten weg - ein übler Genosse (Liah’s ‚Ehemann‘)
“. Nun ja, kleine Mädchen vom Lande fängt man mit der
Zuversicht “noch berühmt“ zu werden! Ich habe Dir beim Cäsar (er meint damit Julius von Mallesch)
mit „Halsabschneider“ die Wahrheit gesagt und
jetzt tue ich es wieder. Aber Du folgst Deinem Grossen Bruder eben nicht. Du denkst ich bin eifersüchtig, wie möchte man wissen, wie Du auf diesen
Hintergedanken kommst.
Ich weiss, dass Du sehr viel für mich getan hast.
Leb wohl L.
Aufhebung des Miet- und Erbrechtsvertrages mit dem Grafen von Schönborn
Der Weggang vom Schloss Weissenstein und das Entfernen der Werke geschah im groben, vorsätzlichen Bruch des Vertrages mit dem Grafen. Dieser willigte
nachträglich ein, den Vertrag ohne Forderungen zu annulieren. Haller überliess dem Grafen als Dank 10 seiner Lieblingsgemälde. Diese hängen seither
dauerhaft in der Orangerie.
Die durchaus berechtigte Frage ist natürlich, was der Graf bzw die Schlossverwaltung mit den Werken nach Haller’s Tod gemacht hätte, wäre er dort
geblieben.
Graf Dr Karl von Schönborn schien keinerlei Interesse an Haller’s Kunst zu haben.
Der Vertrag wurde 1982 annuliert, der Graf starb 1998. Er hinterliess keinerlei Information zur Geschichte der 10 Gemälde in der Orangerie. Haller’s
Aufenthalt und der historische Hintergrund der Gemälde gerieten in Vergessenheit. Von des Grafen Sohn, Graf Paul von Schönborn, sagt man, er erinnere
sich vage, dass da während seiner Kindheit jemand (Haller) in der Fasanerie lebte und in der Orangerie wirkte. Jedoch war er erst 18 Jahre alt als
Haller das Schloss verliess. Noch im Mai 2010 konnte die Schlossverwaltung keinerlei Auskunft darüber geben, wer der Autor der 10 Gemälde ist und wie
diese dort hin kamen.
Obgleich die Schlossverwaltung mittlerweile Aufklärung über Haller’s Leben und Wirken im Schloss erfahren hat, zeigt man von dort keinerlei weiteres
Interesse an Haller und lehnte auch die Zusammenarbeit für eine Haller Ausstellung in der Orangerie ab. Man ist zu Recht stolz auf die grosse Sammlung
barokker Kunst und Alter Meister. Eine Ausstellung mit Haller’s modernen Gemälden wäre wohl als ein Stilbruch zu sehen.
Was also wäre mit Haller’s Werken nach den Erfahrungen mit der Schlossverwaltung passiert? Wären sie, wie Haller befürchtete, in einem Keller eingelagert
ihrem Ende entgegen gegangen? Es spricht viel dafür.
Ausstellung in der Münchener Residenz
Liah schien trotz ihrer vorteilhaften Vermögenslage nicht zu finanziellen Opfern für Haller bereit zu sein. Es ist nicht nachvollziehbar, wie ein
gewisser Heinz Ansel in das Leben von Haller eintauchte, aber er zeigte sich bereit, Ausstellungen für Haller zu organisieren. So gelang es ihm 1983,
eine Mietzusage für eine 22-tägige Ausstellung in der Residenz München zu bekommen. Haller jedoch konnte den Kostenbetrag von ca 12 tausend Mark nicht
aufbringen, und Liah bot sich noch nicht einmal an, den Betrag zu übernehmen. Sie forderte von Gott und der Welt, vor Haller auf die Knie zu fallen und
bereitwillig alle Opfer zu bringen, um Haller in der Öffentlichkeit zu erheben, aber sie selbst war zu geizig, ihren Wohlstand zu einem sehr geringen
Teil für Haller in Person oder für Ausstellungen zu opfern. Die geplante Ausstellung in der Münchner Residenz hätte sicherlich dazu geführt, Haller
wieder in das Bewusstsein der Kunstwelt zu rücken und Sammler auf ihn aufmerksam zu machen.
Abschrift des Mietvertrages
Bayerische Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Seen
Verwaltung der Residenz München
Residenzstraße 1, Tel. 22 46 41
8000 München 2
(Name der Verwaltung)
Nr. 12/2 Ta – 74 – Hu/Ka München den 17. Jan. 1983
Herrn
Heinz Ansel
Steinhauserstraße 35
8000 München 80
Betreff: Residenz München, Max-Joseph-Saal
hier: Überlassungsbedingungen
Zum Schreiben der Bayer Schlösserverwaltung vom 12.1.1983 Az.: 1116/9 – 17 230/82 - IIa
Sehr geehrter Herr Ansel!
Für die vorgesehene Ausstellung der Werke des Herrn Prof. Haller in der Zeit von 8. März – 29./30. März 1983 Uhr stelle ich Ihnen, wie erbeten, den
Max-Joseph-Saal mit Nebenräumen, WC’s im Treppenhaus unter dem Vorbehalt zur Verfügung, daß die Räume nicht in unvorhersehbaren und unabwendbaren Fällen
von der Bayer. Staatsregierung benötigt werden, unter folgenden Bedingungen zur Verfügung:
1. Nutzungsentschädigung:
Die Nutzungsentschädigung beträgt für 3 Wochen 2.250,-- DM zuzüglich aller der Verwaltung entstehenden Aufwendungen, insbesondere aus Dienstleistungen
(z.B. Ein- und Ausbau der Reinigung usw.) und der gesetzlichen Umsatzsteuer. Die Nutzungsentschädigung ist im voraus, spätestens jedoch am Tage der
Veranstaltung, alle weiteren Kosten sind unverzüglich nach Rechnungsstellung bei der örtlichen Verwaltung der Residenz München, Residenzstraße 1, 8000
München 2, unter Angabe des Buchungskennzeichens 061611-01093-6 auf Konto-Nr. 24 592 bei der Bayer. Landesbank, Girozentrale München, Bankleitzahl
700 500 00 zu bezahlen.
Haller’s Gemälde in Triest
Wie bereits erwähnt, brachte Liah am 12. Dezember 1982 32 der Haller Gemälde zu (Georg) Giorgio Rustia nach Triest, wo dieser eine Ausstellung
organisieren wollte. Aber der Ausstellungstermin wurde immer wieder verschoben, bis Liah schliesslich auf Rückführung der Gemälde bestand. Allerdings
behielt Rustia 13 der Werke zurück, mit der Begründung, diese seien zu gross, um kostengünstig in einem kleinen Lieferwagen transportiert werden zu
können. Ausserdem könne man diese nicht vor dem Zoll verstecken.
Nachdem Liah am 11. März 1984 Rustia in Triest anrief und er seine Forderung nach Entschädigung für seine Aufwendungen in Höhe von 2000 Mark als
Bedingung für die Freigabe der Gemälde unterstrich, vergingen ganze 15 Jahre bis Liah sich 1999 mit ihm wieder in Verbindung setzte.
Wie aus telefonischem Kontakt mit Giorgio Rustia hervorgeht, hätte es noch im Jahre 2000 lediglich dieser 2000 Mark bedurft, um die Werke in Triest,
abholen zu können. Liah jedoch bestand in ihrem Starrsinn darauf, dass Rustia nicht nur auf dieses Geld verzichten, sondern auch den Transport nach
Australien bezahlen müsse. Die Kommunikation mit Rustia brach völlig ab. Giorgio Rustia ist mittlerweile verstorben, die Bilder sind an einem unbekanntem Ort.
Man weiss auch nicht, um welche Bilder es sich handelt.