Ludwig Haller, 28. August 1982
Borgdorf, 28 VIII. 82
Ich habe 1938 an E. L. Kirchner einen Packen Fotos nach Davos geschickt und hatte ihm von meiner Theorie dazugeschrieben. Darauf schrieb er mir einen Satz
zurück: „Mit Ihren Arbeiten kommen Sie an Picasso heran. Ich kannte viele, die das versucht haben; gelungen ist das bislang keinem.“
Auf meinen
Zusatz „die Form entsteht aus dem Kompliment des Zwischenraumes“ (womit ich seine Arbeiten meinte) ist er nicht eingegangen. Übrigens hat er sich
kurz darauf erschossen.
1938 arbeitete ich so, wie der „Judaskuss“ ist, und Grohmann (Prof Dr Will Grohmann) meinte hierzu: „eine interessante Synthese zwischen Picasso und
Kirchner“. (die noch fehlte). So hat man z.B.Tintoretto „eine interessante Synthese zwischen Titian und Michelangelo“ genannt. Die Kunstinterpreten
suchen ja immer nach solchen Zusammenhängen – aber eben im positiven Sinne. Mit der „Chaotenkunst“ von heute glauben die Intellektuellen, dass sich
frei nach der Bibel eine neue Schöpfung ergeben müsse. Das „Wüste und leer“ halten sie sogar notwendig für die Voraussetzung zu neuer Kreativität.
Seitdem hört man den Satz schon seit Jahren (auch im Fernsehen) „dass die heutige Kunst auf falschen Voraussetzungen beruht“. Oder „auch auf einem
Denkfehler“.
Judaskuss, 1938, Öl, Archivnummer 00250