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Meinungen und Kritiken zu Haller

Auszüge aus einem Gespräch über Ludwig Haller zwischen Karl-Heinz Seelig und Prof Dr Heinrich Beck am 28. Mai 2015

Prof Dr Heinrich Beck ist ein deutscher Philosoph und war Professor für Philosophie an der Fakultät Pädagogik, Philosophie und Psychologie der Universität Bamberg. Er lernte Ludwig Haller im Jahre 1977 kennen.

Karl-Heinz Seelig folgt als völliger Kunstlaie seinem Versprechen und dem Auftrag von Haller’s Schülerin und Vertrauten, Liah Falkenberg, die in der Welt verloren gegangenen Puzzleteile von Haller’s Leben und Wirken zusammenzutragen und Haller wieder in das Bewusstsein der Kunstwelt zurück zu führen.

So kam es am 28. Mai 2015 zu einem persönlichen Gespräch zwischen ihm und Prof Dr Heinrich Beck im Cafe Graupner zu Bamberg.

Beck: Ich bedanke mich zunächst mal bei Ihnen dafür, daß Sie auf mich zugekommen sind. Daß Sie das Andenken Haller’s wieder lebendigen wollen, das ist auch sehr in meinem Interesse.

Ich habe Haller seinerzeit des öfteren im Schloss Weissenstein in Pommersfelden besucht und wir haben zusammen philosophiert, wobei er mich in seine Philosophie eingeführt hat, die in Richtung Platon’s liegt, und ich dann versucht habe, seine Gedanken im Geiste des Platon etwas mehr zu verdeutlichen und vielleicht dazu beizutragen, daß sie eine vollkommenere Gestalt bekommen haben.

Wenn ich das skizzieren soll, würde ich sagen, Platon‘s erste Thesengruppe bezieht sich auf die Herkunft des Seienden aus einem allumfassenden Grund einer, wie er es nennt, höchsten Idee, nämlich der Idee des Guten, wobei unter Idee nicht etwa ein menschliches Gedankenprodukt zu verstehen ist, sondern eine Synenergie. Und das Gute ist die oberste Synenergie nach Platon deshalb anzunehmen, weil alles, was entsteht, herkommen muss von einem, das es entstehen lässt und das kann nur das sich Verströmende, das Agathon, das Gute sein. Das ist die Liebe. Nicht etwa der Eros. Der Eros bedeutet die Sehnsucht nach der Liebe, während, wonach die Sehnsucht sich ausstreckt, die Liebe im Sinne des Sichverströmenden, des Sichmitteilenden ist, - das Agathon.

Auch die menschliche Seele kommt aus dem Sichvertrömenden, aus dem allumfassenden, absolutem Liebesgrund und ist ursprünglich eins, nach Platon und nach Haller, mit dieser Urliebe gewesen und hat sich aber aus diesem Liebesgrund gelöst durch, wie es bei Platon in einem Mythos heisst, falsche Anhänglichkeit in Materie. So stürzte sie aus ihrer himmlischen Höhe dann in die Materie ab und wurde dadurch im eigentlichen Sinne zur Seele, d.h. zum belebenden Prinzip in Materie. So wurde ihr dann ausser ihrer geistigen Ursubstanz, ihrem geistigen Kern, noch eine sinnliche Begierdeseele, Teilseele, und eine pflanzliche vegetative Seele angehängt. Diese Sinnlichkeit hat die menschliche Seele gemeinsam mit dem Tier, das seelige Bewusstsein, und die vegetativen Funktionen gemeinsam mit der Pflanze, deswegen nennt man das dann später in der Philosophie Pflanzenseele. Das sind also Teilseelen, die der Geist, dem geistige Kern der eigentlichen menschlichen Seele noch angehängt wurden.

Das ist also der erste Teil der platonischen Wirklichkeitsschau, die von Haller so geteilt wurde. Und jetzt kommt es im zweiten Teil der platonischen Lehre darauf an, daß die Seele wieder zu ihrem Liebesursprung zurück kehrt und die Materie aufarbeitet. Das geschieht durch die Rückerinnerung an ihren göttlichen Ursprung. Die Rückerinnerung wird nach Platon einmal durch die Nachahmung des Guten und der Gerechtigkeit, das ist der Sinn des Staates, deshalb ist Platons Hauptwerk der Staat, durch die Gerechtigkeit im Staat, dessen Sinn es ja ist, Gerechtigkeit darzustellen, in Gang gebracht und sodann durch die Kunst, in der es um das Schöne geht, und zwar das Schöne in einer Arche-typischen urbildlichen Dimension. Darin sah Haller seine Aufgabe, also durch die Darstellung des urbildlich Schönen, des Abbildlichen durch eine Übersteigerung, ein Übersteigen des allzusehr begrenzten Schönen in der Welt zu etwas urbildlich Schönem, das noch nicht Gestalt gewonnen hat. Deswegen sind seine Bilder auch ähnlich wie Picasso, zeigen eigentlich etwas Aufsprengendes und damit etwas Prophetisches. Das ist ein wesentliches Element, soweit ich mich erinnere, in der Idee Hallers, daß das, was er gestaltet, hier das Aufsprengen des begrenzt Schönen, auch etwas Prophetisches ist, wobei Prophetie hier nicht das Vorhersagende, sondern die Hervorsage eigentlich bedeutet, was man durch das Bild hervor bringt, hervor spricht, hervorsagt, was sein soll.

Seelig: Ich glaube, es ist einer der Punkte, wo Haller’s Bilder die richtige Interpretation brauchen, um wertgeschätzt zu werden. Denn ich bin also mit Fotos und anderen Ablichtungen von Haller’s Bildern in der Kunstwelt vorstellig geworden, und da kam immer als Erstes die spontane Reaktion „das ist ja eine Kopie von Picasso“. Und das nächste ist, dass viele Leute seine Bilder nicht ästetisch schön finden.

Beck: Sie wollen auch gar nicht schön sein. Der eidetische Begriff, den Haller immer gebraucht, ist das „Eidetische“, also auf das Urbild bezogene, das ist also nicht „schön“ im traditionellen Sinn des Wohlgefälligen, worin man seine Heimat, sein Ziel, seine Ruhe finden könnte, das wäre einzig das Begrenzte, das ja gerade überstiegen werden soll zum unbegrenzt liebenden Ursprung. Deswegen wollen die Bilder Haller‘s gar nicht schön sein.

Seelig: Haller hat übrigens in dem Anhang zum Erbvertrag mit dem Grafen Schönborn geschrieben: „Meine Bilder sollen nichts anderes als Beispiele für meine Philosophe sein.“ Sie sollen also nicht gemalt werden, damit sie Geld bringen und in einem Wohnzimmer hängen.

Beck: Da sagen Sie ein ganz wichtiges Wort: „Beispiel“. Beispiel, das ist also hier in seinem Zusammenhang mit Ursinn, sie sind das Beiherspielende. Sein Spiel, seine Bilder wollen ein Spiel sein, das „beiherläuft“ mit dem Prozeß der Rückkehr zur Urschöpfung, zum Urschönen, zum Liebesgrund. Beiherläuft und diesen Prozeß fördert, also Hervorsagt in dem Sinne von der Prophetie her. Ein Spiel, es ist ein Spiel, das „Beiherspielen“. Das wichtigste ist der Prozeß selber, mit dem seine Bilder mitspielen, - produktiv, kreativ.

Seelig: Nachdem, was Sie gerade ausgeführt haben, ist es verständlich, warum seine Philosophie auch als eine „Offenbarung für das Abendland“ bezeichnet wurde, weil sie irgendwie eine Rückführung der Betrachtungsweise in sich hat.

Beck: Rückführung zum Ursprung, - aufsprengend, übersteigend, das Gewordene.

Seelig: Er redet viel von Pneuma und es wird viel davon gesprochen, daß er das Pneuma wieder entdeckt hat. Da habe ich persönlich ein Problem, weil ich den Ausdruck Pneuma nicht interpretieren kann.

Beck: Der Ausdruck hat in der griechischen Fassung der christlichen Offenbarung eine Bedeutung. Es wird in den Evangelien vor allem bei dem Evangelisten Johannes genannt, und hat da eine zentrale Rolle und ist auf das Trinitarische bezogen, auf die christliche Vorstellung der Dreieinheit Gottes, die dritte der drei Hypostasen. Es sind nicht drei Götter. Wenn es drei Götter wären, der Vater, der Sohn und der heilige Geist, dann wären sie gegeneinander abgegrenzt.

Diese unbegrenzte Einheit Gottes hat einen dreifachen Stand oder Status in sich. Der erste Status ist der eine Gott als „Sichaussprechender“. Der zweite Status ist die ganze Fülle Gottes ausgesprochen, das ist der Logos, und zwar die ganze Fülle, deswegen ist bei Johannes gesagt, dass das „Wort“ auch Gott war. „Bei Gott“, das ist der zweite Status, - ausgesprochen. Gott ist also zunächst unbegrenzt in sich selbst, dann ausserhalb seiner selbst, nämlich ausgesprochen als Wort, und sich gegenüber gesetzt. So bildet Gott einen Gegensatz in sich selber. Das hat den Haller sehr beschäftigt, dass Gott ein Gegensatz in sich selbst ist. Der Gegensatz bedeutet den Ursprung von Kreativität. Und dann der dritte Status, die Rückkehr des Wortes, der göttlichen Fülle aus dem Ausgesprochensein in den Ursprung. Das ist dann das Pneuma. Das Rückströmen, die Bewegung in sich hinein, Gott geht zunächst aus sich heraus, indem er sich selbst ausspricht und dann geht er in sich hinein, indem er das ausgesprochene wieder in sich zurück holt, und das ist das Wehen, die Gewalt des Geistes, das Pneuma. Und das ist bei Haller ganz wichtig in der Bedeutung seines Werkes. Es soll pneumatisch sein, also schöpferisch, - die Rückkehr, die Gewalt der Rückkehr. Pneuma, das ist die Bewegung.

Heinrich Lützeler, der Kunsthistoriker aus Köln, hat als Kriterien für das Schöne, im Übertragenen, nicht im engen Sinn, drei Apsekte herausgearbeitet, die sich auf die drei Personen, auf die drei Selbstände des unbegrenzten Gottes beziehen. Ein Kunstwerk ist umso höher im Rang, je höher sein Gehalt ist, - er bezieht sich auf Gott Vater, den Ursprung - und je höher es Gestalt ist, das ist der Ausdruck des Gehaltes, also im Worte, im Logos, und je größer seine Gewalt ist. Das ist auf das Pneuma bezogen. Gehalt, Gestalt, Gewalt, das sind die drei Wertaspekte nach denen für Lützeler alle Kunst zu beurteilen ist. Wobei Gewalt nicht das Vergewaltigende ist, sondern das Hinreißende, das Bewegende, das Hineinnehmende.

Seelig: Haller’s Bilder haben oft bewußt völlig unnatürliche Proportionen.

Beck: Das ist die Gewalt.

Seelig: Die Hände zum Beispiel sind überdimensional groß, von der Abstraktheit mal abgesehen, aber einfach groß und klobig und dennoch eine harmonische Einheit bildend. Wenn man nur die Dimensionen anschaut, dann häufig eben überdurchschnittlich unproportioniert, aber immer groß, also nie kleiner als die normalen Proportionen, sondern immer groß.

Beck: Wobei die Harmonie, die Einheit eigentlich Zukunftsperspektive ist. Zunächst ist die Einheit, wenn wir also die Darstellung eines Menschen behandeln sollen, gesprengt, denn in der Einheit des Menschen, wie er von Natur aus gegeben ist, haben die Hände zum Beispiel ein viel kleineres Maß als der Kopf und der Rumpf. Und bei Haller‘s Bildern ist das zum Teil umgekehrt. Die naturgegebenen Proportionen sind aufgebrochen, aufgesprengt. Das ist das pneumatische. Sie sind überstiegen, um eine neue Einheit, die noch gar nicht ist, die angezielt wird, zu erreichen durch das Pneuma, durch die Gewalt.

Dieser Zustand des Menschen, dass er hier eigentlich kein Gleichgewicht hat, sondern immer in Gefahr ist, oben oder unten auf ein Maß zu kommen, das ist der Ausdruck der göttlichen Weisheit, sagt Russ. Und Haller ist auch seiner Meinung, wonach der Mensch nur bei Gott seine Heimat haben soll und sich nicht hier schon einnisten. Und wenn die Bilder zu schön sind, zu proportionsbetont, dann ist der Mensch in Gefahr, daß er schon beim Bild seine Heimat sucht und nicht mehr erst dort, was das Bild bezeichnen soll, worauf das Bild hinweisen soll. „Es ist ja hier alles schon schön vollendet.“ Da ist keine Bewegung mehr, also kein Aufbruch aus der Welt in die ewige göttliche Heimat, und das ist Haller’s Anliegen.

Seelig: Wenn eine Blume ausschaut wie eine Blume, das ist dann nur eine Kopie.

Beck: Dann ist die Seele schon beruhigt beim Anblick dieses Ebenbildes einer natürlichen Blume Die Seele soll aufbrechen aus ihrer Einnistung, aus ihrer Pseudogeborgenheit in der Welt, dadurch daß also in den Bildern die Welt außer Proportionen gebracht werden. Das ist das pneumatische.

Seelig: Haller war ja also eigentlich ein Atheist. Ich habe keine Hinweise auf irgendeine traditionelle Religiösität gefunden, kein Hinweis darauf, daß er katholisch oder evangelisch war.

Beck: Er war Platoniker, nicht wahr. Und es fragt sich, was man unter Gott versteht, wenn man sagt jemand sei Atheist, was versteht man unter Gott. Der Begriff Gott kommt ja nicht nur in der Religion, sondern auch in der Philosophie vor.

Als ich Haller kennengelernt habe, da war für mich ganz schnell klar, daß er ein Platoniker ist. Er hatte schon Kenntnis von der Philosophie des Platon. Wie weit er diese in den Schriften des Platon studiert hat, das kann ich nicht sagen. Aber die Gespräche waren ganz im Geiste des Platon.

Seelig: Es hat ihm wahrscheinlich geholfen auch, daß er Griechisch gelernt hat.

Beck: Der logos spermatikos, der logos , das ist der Sinngehalt, das Wort, durch das die Welt geschaffen ist. Dieses Wort, dieser Sinn, findet sich in allem in der Welt, gewissermaßen als Same, logos ist Sperma, der Samen muss gepflegt werden und aus dem Samen entsteht dann wieder etwas, und das, was entsteht, das ist keimhaft gewissermassen. Haller wollte (in seinen Bildern) das eben gewissermaßen giessen und auf eine Einheit (hinzielen), die noch gar nicht ist, nur durch den Geist erahnt werden kann.

Seelig: Haller’s Bilder der Kunstwelt näher zu bringen, ist gar nicht so einfach, weil die Kunstwelt ein Bild nach anderen Masstäben beurteilt.

Beck: Ich glaube, der Weg das zu tun, wäre, sich auf Picasso zu beziehen, also zunächst auf die Ähnlichkeit der Haller’schen Werke mit denen von Picasso, und auch den Unterschied zwischen Haller und Picasso finden.

Seelig: Ich habe ein Gespräch gehabt mit den Kuratoren zweier Museen und ihnen Fotos von Haller Bildern gezeigt. Beide haben als erste Reaktion gesagt „Picasso“. Dann aber haben sie sofort erkannt, daß Haller eben doch einen völlig eigenen Stil hat. Daß seine Werke nicht der Versuch waren, Picasso in der Art der Zeichen- oder der Maltechnik zu kopieren, sondern daß - wohl auf eine expressionistische Art und Weise – bei Haller etwas ganz anderes verfolgt wurde.

Beck: Was wird exprimiert? Das müßte man bei dem Expressioinismus oder den verschiedenen Vertretern des Expressionismus fragen. Werden da nur subjektive Vorstellungen ausgedrückt oder soll ausgedrückt werden, was der Künstler erfährt, also aus dem metaphysischen, aus dem Göttlichen, aus dem Urbereich, indem er sich zur Verwirklichung den Göttern zur Verfügung stellt als Medium, empfängt wie eine Frau? Etwa so, daß der Künstler sich zur Verfügung stellt in seinem Ausdruck, in dem was vom metaphysischen her, vom Göttlichen, von der Liebe her in Gang gebracht ist und zur Verwirklichung drängt, also der Künstler, wie ich es verstehe, medial ist?

Seelig: Sie haben gerade ein Stichwort genannt: drängt. Man könnte sagen, Haller war fast besessen von der Malerei. Er hat zum Beispiel in Ludwag, als er unmittelbar nach der Bombardierung von Dresden dorthin kam, also während der Kriegszeit, noch 75 Zeichnungen angefertigt. Er hat unmittelbar nach der Kriegszeit in Ludwag schätzungsweise 100 Zeichnungen angefertigt, und auf Materialien, was immer er gefunden hat.

Haller war, man könnte sagen, er war besessen von der Malerei, aber, es ist vielleicht nicht richtig ausgedrückt. Er hatte den Drang, seine Eingebungen zu manifestieren.

Beck: Also Besessenheit ist vielleicht mißverständlich, da das auch auf das Böse hinweisen könnte.

Seelig: (Besessenheit) als eine volkstümliche Bezeichnung.

Beck: In Wirklichkeit ein Auftrag aus dem Liebesgrund.

Seelig: Sie verwendeten gerade einen anderen Ausdruck, „Drängnis“, er fühlte sich gedrängt.

Beck: Gedrängt, bewegt, wobei das nicht egozentrisch verstanden werden darf, deswegen hatte ich gegen den Ausdruck Besessenheit Vorbehalt. Als „Medium“ oder als „Beauftragter“, das ist vielleicht zu hoch formuliert, eher aus Geschichte, Liebe, Liebesgrund. Er verstand sich als Schauender im Sinn des Empfangenden, er schaute also irgendwie geistig, betrachtete das, was ist und was auch durch ihn, mittels seiner, in die Wirklichkeit drängt.

Seelig: Was das Schauen anbelangt und das Empfangen, das Hervorbringen, so ist das bei Haller ja noch insofern einzigartig, weil er nur ein Auge hatte. Er war, trotzdem er Dinge nur monotyp gesehen hat, in der Lage, dreidimensional zu zeichnen. Er hat ferner auch die Fähigkeit gehabt, „alla prima“ zu zeichnen, das heißt, es konnte beim Zeichnen nicht koprrigiert werden, es mußte alles beim ersten Mal passen. Und er verstand es, mit wenigen Linien einen menschlichen Körper oder ein Pferd oder was immer, in voller Kraft und Dynamik widerzugeben. Obgleich er eben nur ein Auge hatte, haben seine Zeichnungen eine gewisse Tiefe.

Beck: Das ist die Urgewalt, die er ergreift und der er sich hat ergreifen lassen und der er sich zur Verfügung stellte. Es mag hoch fomuliert sein, aber es ist eigentlich nicht seine Kraft, die also das Gestaltende ist, sondern die Liebe, der schöpferische Urgrund, bei dem er mitwirkt. Das ist die Urenergie des Seins.

Seelig: Was bei Haller so unwahrscheinlich heraussticht, er hat als Kind nie wie ein Kind gezeichnet, immer schon wie ein Erwachsener.

Beck: Ja das könnte eine Bestätigung sein.

Seelig: Seine frühen Zeichnungen waren sehr realistisch, proportionsgerecht. Er hat die (kindliche) Phase der Strichmalerei nie gehabt. Es existieren Zeichenbücher als er 8 Jahre alt war.

Beck: Das ist also etwas Übermächtiges, etwas, das über seine Mächtigkeit als Kind hinaus geht, das Höhere, eine höhere Macht, die durch ihn hindurch wirkte. Daß eine Macht in ihm war, welche über das, was er biologisch (altersgemäß) können konnte, hinausging.

Ich glaube, wir sollten mal zurückkehren zu der Frage, wie man Haller ins Spiel bringen könnte, und da meine ich, in Bezug auf Picasso als Gesprächspartner, im geistigen Sinne Picasso‘s. Wenn man also zeigen könnte, vielleicht durch eine Doktorarbeit, untersuchen lassen, was er mit Picasso gemeinsam hat, das Ziel, die Inspiration, was sich also in der Ähnlichkeit der Bilder zeigt und sich aber wesentlich unterscheidet. Der erste Punkt wäre das Gemeinsame, der Zweite Punkt das Unterscheidende, und wie sich durch die Differenz zwischen Picasso und Haller die Bedeutung des Haller hervorhebt. Der dritte Schritt wäre dann, zu eroieren, wie sich beide ergänzen können, im Hinblick auf das gemeinsame Ziel. Das wären also drei Schritte in der Methode, Haller wieder in das Spiel zu bringen, erstens das Gemeinsame im Anliegen, im Ursprung, zweitens das Unterscheidende und drittens die gegenwärtige Ergänzung durch das Unterscheidende im Hinblick auf den Weg des gemeinsamen Ziels. Und das wäre , so meine ich, von Platon formuliert „ Liebe“.

Man könnte das vielleicht konkret exemplifizieren an dem Bild von Picasso über den Krieg. Das will dem Frieden dienen und die Schrecklichkeit des Krieges darstellen: La Guerra. Da zeigt sich das, was ich sagte, nämlich daß sich Picasso in den Dienst stellen wollte, daß er die Schrecklichkeit des Verfehlens der Idee der Gerechtigkeit, platonisch gesprochen, und diese Verzerrung, den Haß, die Zerstörung, zunächst mal aufzeigte, aber, und das ist der nächste Schritt, dies im Dienste auf die Überwindung der Verzerrung, im Dienste eines Friedens tat, der noch nicht ist. Den kann er nicht darstellen, weil er noch nicht ist.

Seelig: Haller sagt, er habe (am Anfang seiner Studienzeit) für sich eine Konstruktionsart gefunden, welche Körper in Ellipsen und Kreise teilt.

Beck: In geometrische Elemente. Haller war Analytiker. Das entspricht meiner Meinung, daß er in zwei Schritten vorgeht, also analog zum planetarischen Geschehen, zunächst eine Einheit in ihre Elemente auflöst, das ist die Analyse, und dann aus den Elementen neue Einheiten im Spiel zusammenfügt. Also aus diesen Elementen neue Einheiten „erspielt“, die aber nie fest, nie fix sind, sondern diese werden wieder aufgelöst zu neuen Elementen, gewissermaßen angeboten. Er macht da ein Angebot, gibt einen Denkanstoß, selber kreativ zu sein. So daß also, was in der modernen Kunst viel der Fall war, der Eindruck vorhanden ist, daß das Bild nicht fertig ist, sondern im Betracht der Überlebenden erst vollendet wird. Das Bild richtet ein kreatives Wort an den Betrachter: „mach was draus“.

Es wird nichts fix objektiviert, sondern es ist ein kreativer Prozeß, bei dem die Elemente in verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten offeriert werden, die nur angedeutet sind. Erst im Betrachter wird das dann zusammengefügt, so daß der Betrachter herausgefordert ist, sich damit auseinander zu setzen - nicht im Kunstgenuß unterzugehen. Er (Haller) will nicht den Kunstgenuß.

Seelig: Das ist eben das Übliche, die Leute hängen sich ein Bild in das Wohnzimmer, um es zu genießen.

Beck: Die wollen damit hantieren. Das kann man (bei den Haller Bildern) nicht. Man muß durch das Bild in sich einen Prozeß antreten lassen. Der Betrachter ist gewissermaßen ein Mitarbeiter an der Zukunft zusammen mit dem Künstler.

Diese Deutung des Haller muß man beachten.

Für mich ist Haller das Glied eines Prozesses. Er sieht sich selber als Glied eines Prozesses. Man kann ihn nicht nehmen und irgendwo in ein Museum stellen mit dem Vermerk: „Das ist auch ein Vertreter dieser Richtung – erledigt“.

Seelig: Er war übrigens sehr frustriert, wenn Leute seine Philosophie nicht verstanden haben.

Beck: Er war ein Pneumatiker. Er konnte es nicht ertragen, und es war ihm jedenfalls ganz fremd (und zuwider), wenn jemand mit ihm umgehen wollte, seine Werke nehmen und einen Profit daraus erzielen, das wollte er nicht.

Ich könnte mir denken, daß man mit Haller eher umgehen kann, wenn man ihm die Deutung zuweist, eine geistige Gestalt zu sein, die sich so verstanden hat, und die auch so verstehbar ist, sich ihm Dienst des schöpferischen Weltprozesses zu sehen, wobei die bisherigen, durch die in der Natur gewollte Evolution gewordenen Formen in ihre Elementareinheiten zerlegt werden, das ist das Analytische, um aus diesen Elementen dann neue natürliche Elemente zu testuieren und aus diesen Elementen dann neue Einheiten zu konstruieren, aber im Spiel.

Und zwar hinzielend auf eine umfassende Einheit, in der die Vielheit und Verschiedenheit nicht ausgelöscht, sondern bewahrt ist. Ich meine also, wenn man den Haller so deutet, wenn man mit dieser Deutung im Hintergrund, im Hinterkopf gewissermaßen, an seine Bilder herantritt, daß man eher was damit anfangen kann, statt dem Versuch, ihn kunstgeschichtlich einzuordnen und damit abzutun.

Ich meine, dass es vielleicht gar nicht so unfruchtbar wäre, Haller mit einer solchen Deutung vorzustellen. Und wenn Sie nur sagen, „der Heinrich Beck, der deutet das so“. Ich bin nicht ganz unbekannt in der Wissenschaft.